Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
haben
ahd. haben, mhd. haben, gemeingermanisch, verwandt mit ↑ "heben" und lat. capere ›greifen, fassen, nehmen‹. Es hatte früher die meisten Formen in einer doppelten Gestalt, einer regelmäßigen und einer unregelmäßigen, zusammengezogenen. Von den letzteren sind hast, hat (mhd. hast, hat) und das Präteritum hatte(mhd. hate) allgemein geworden (dagegen gehabst, gehabt, gehabte). Diesen analog existierten im Mittelhochdeutschen ich han, wir han, sie hant, Infinitiv han, Formen, die in den oberdeutschen Mundarten fortleben, während in der neueren Literatur han nur vereinzelt von Dichtern mit besonderer Absicht, z. B. archaisierend, verwendet wurde; altertümelnd zuweilen auch die Präteritalform hätt als Indikativ (mhd. hete), z. B. Goethe (er hätt ein Auge treu und klug) und Uhland.1 Die ursprüngliche Bedeutung von habenist wohl die von ↑ "halten"(4). Sie liegt der Ableitung (Hand)habe zugrunde (vgl. auch Habung), und in ihr ist die Vermischung mit "heben" eingetreten. Wendungen, in denen habendieser Bedeutung am nächsten steht: sich habensich benehmen‹; wie sie so mädchenhaft sich haben (G.A.Bürger), heute umgangssprachlich
hab dich (nur) nicht sotu nur nicht so, zier dich nur nicht‹, ironisch ach, so habt Euch doch (H. v.Kleist); siehe "gehaben". Ferner ›sich fühlen‹: man hat sich wohl in seiner Gegenwart(Schiller); man hat sich ganz gut und bequem in ihrem Umgang(Schiller); gehab dich wohl (Abschiedsgruß). Mit abstraktem Subjekt ›sich verhalten‹: das Reich Gottes hat sich also, als wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft (Luther). Unpersönlich: es hat sich (›verhält sich‹) nicht also (Luther); lustiger freilich mag sich's haben, über anderer Köpf' wegtraben (Schiller). Ferner erscheint habenschon althochdeutsch in der Bedeutung von ↑ "halten"(7), so noch sie haben den für einen Greuel, der heilsam lehret (Luther); wie hast du's mit der Religion? (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3415). Auch
zum besten haben wird hierher zu stellen sein; vgl. noch wahrhaben.
2 Aus der Bedeutung(1) abgeleitet, aber an die Bedeutung(3) angelehnt, sind Verbindungen mit Präposition wie in der Hand haben (ursprünglich ›halten‹), im Munde, am Finger, auf dem Kopf, dem Rücken, über dem Arm, um die Schultern, unter den Händen, zwischen den Zähnen, in der Tasche, im Knopfloch, auf dem Hute, am Kleide haben. Weiter entfernen sich von der ursprünglich sinnlichen Bedeutung an sich, auf sich, bei sich, mit sich, vor sich, hinter sich, über sich, unter sich haben; zur Seite, im Rücken, zur Hand, im Auge haben u.dgl., Verbindungen, die z. T. auch phraseologisch gebraucht werden, z. B.
das hat nichts auf sichhat nichts zu bedeuten‹. Hier sind weiter anzuschließen im Sinn, im Gedächtnis, auf dem Herzen, auf dem Gewissen haben; in Verwahrung, in Verdacht, unter Aufsicht haben. Vgl. auch die unfesten Zusammensetzungen "anhaben" usw. (s. unten). Ohne Objekt er hat auf, zu (den Laden, die Gastwirtschaft usw.). Teils hierher, teils zu (1) gehören die Fälle, in denen als Objekt ein Gegenstand steht, der nicht dem im Subjekt Genannten, sondern einem anderen gehört, z. B. du hast meinen Schirm.
3 Heute am üblichsten ›als Eigentum besitzen bzw. sein eigen nennen‹. Von hier aus hat sich die Verwendung auf alle Beziehungen erstreckt, auf die das Possessivpronomen angewendet werden kann, und noch etwas darüber hinaus. Man hat Augen, Ohren, einen großen Kopf, einen langen Arm, rote Haare, ein gutes Herz, einen lebhaften Geist; ein Geschwür (am Hals), eine Narbe (auf der Stirn), ein Muttermal; eine Krankheit, Fieber, Husten, Hunger, Durst; eine gute Gesundheit, Kraft, gute Eigenschaften, ein schwaches Gedächtnis, eine lebhafte Einbildungskraft; einen Bruder, eine Frau, einen Mann, einen Sohn, Freunde, Feinde, einen Herren, einen Diener; Macht, Ansehen, Ehre; Eile, Muße, Zeit; Freude, Wohlgefallen an etwas, seine (liebe) Not, seine Plage mit etwas, seinen Verdruß über etwas; jmds. Erlaubnis, Einwilligung; (im Urlaub) Regen, schönes Wetter; (in der Schule) Deutsch, Physik. Auch leblose Dinge, Vorgänge und Zustände können neben haben als Subjekt stehen: das Haus hat zwei Türen, Stockwerke; die Stadt hat 40.000 Einwohner; die Aufführung, die Not hat ein Ende; die Sache hat Eile, Zeit; das hat keine Not, Gefahr. Zu beachten ist, daß der Verwendung von habenweitgehend die von ↑ "bekommen" (↑ "kriegen") und ↑ "behalten" entspricht, die sich zu haben verhalten wie "werden" und "bleiben" zu 2"sein". Auch auf die Entsprechungen zu "nehmen" und "geben" sei hier hingewiesen. Daraus, daß solche Entsprechungen sich auch bei den Fällen unter (2) finden (z. B. in die Hand nehmen, geben, bekommen, in der Hand behalten), ergibt sich, daß sie dieser Bedeutung(3) von haben angegliedert sind.
4.1 Besondere Verwendungs- und Konstruktionsweisen von haben: Es drückt ein dauerndes Verhältnis aus, kann aber auch ein Verhältnis stiften: habe Dank,
haben Sie die Güte/ Gefälligkeit; desgleichen, wenn man bei Überreichung eines Gegenstandes sagt da hast du (eine Mark). Besondere Vorstellungen knüpfen sich an in er hat noch zwei Meilen bis N.; da haben wir's (äußert jmd. beim Eintreten eines Ereignisses, meistens eines unangenehmen, das er vorhergesagt oder vorhergesehen hat), ähnlich umgangssprachlich
⊚⊚ da haben wir die Bescherung; ich will das so, also anders, nicht haben, auch ich möchte ihn nicht anders haben; umgangssprachlich ich kann das nicht habenes ist mir unerträglich‹; was hast du?was regt dich auf, was bekümmert dich?‹ (vgl. was ist dir?); ich hab'shabe es erraten, weiß es jetzt‹; etwas dagegen haben; es mit einem haben im Sinne von ›zu tun haben‹, veraltet, vgl. ich habe es nur mit ihr allein(Schiller); daß sie es noch mit einem andern habe(Schiller); er hab' es mit einem der Schlimmen (Mörike); heute umgangssprachlich
⊚⊚ etwas mit jmdm. haben, d. h. ein Liebesverhältnis; ferner er hat es im Hals, auf der Brust (mit Bezug auf ein Unwohlsein); er hat es faustdick hinter den Ohren (↑ "Ohr"). Man sagt ich habe das von meinem Vater usw. (›er hat es mir gegeben‹); diese Wendung kann auch auf Nachrichten, Mitteilungen gehen: ich habe es aus seinem eigenen Munde, bei Goethe auch aus der Erfahrung haben. Umgangssprachlich (was) haste was kannstesehr eilig‹, mit Anlehnung an "hasten". Über Soll und Haben ↑ "sollen".
4.2 Mit prädikativem Adjektiv kann habenverbunden werden, doch nur in bestimmten Fällen, z. B.: den Mund, die Hände, die Taschen usw. voll haben; fertig, nötig haben, liebhaben (dazu "Liebhaber"), guthaben (wozu substantiviert "Guthaben"); umgangssprachlich etwas loshaben (↑ "los"); Gott habe ihn selig; es gut, schlecht haben; er hat gut reden usw.; ich habe seit zwei Stunden frei, dann auch ohne Objekt ich habe frei, daher wird jetzt in dem vollständigeren Satz zwei Stunden nicht mehr als Objekt, sondern als Bestimmung der Dauer aufgefaßt; nicht eigentlich hierher gehört ↑ "satt" haben; schweiz. kalt habenfrieren‹ (M.Frisch; L337 WdG). Ähnlich verhalten sich Verbindungen mit gewissen Adverben: jmdn. gern haben wie liebhaben, aber auch sie hat es gern, daß (wenn) man sie besucht u.dgl.; aushaben, durchhaben (z. B. ein Buchfertig damit sein‹); weghaben (↑ "weg"); es weit, nahe bis wohin haben. Bei Substantiven wird das prädikative Verhältnis durch zuausgedrückt: zum Freund, zur Frau haben.
4.3 Der bloße Infinitiv neben dem Objekt, der dann zu diesem in einem Prädikatsverhältnis steht, erscheint in liegen, stehen haben, vgl. ich habe ein Faß Wein im Keller liegen; er hat zwei Pferde im Stall stehen; vereinzelt werden andere Verbindungen gewagt: was für eine Schar von Brüdern hat er nicht umherlaufen (Thümmel); ich hab ihn (den Brautstrauß) heut vorstecken (Goethe, Briefe)
4.4 Ausgedehnte Verwendung hat daneben haben zu mit Infinitiv; ein hinzutretender Akkusativ war ursprünglich von haben abhängig und ist es auch noch deutlich in Fällen wie ich habe nichts zu essen, zu verlieren, wurde aber allmählich als vom Infinitiv abhängig aufgefaßt; ein Satz wie ich habe Geld zu verleihen wäre noch unter die ursprüngliche Auffassung unterzubringen, dagegen nicht mehr einer wie ich habe die Küche zu besorgen. Die Verschiebung zeigt sich auch in der Wortstellung: sie hat mir nichts zu sagen (nichtshinter dem zu sagen gehörigen mir). Häufig v. a.
etwas mit jmdm. zu tun/ schaffen haben.Die Verbindungen mit zu und Infinitiv können insbesondere die Berechtigung zu etwas bezeichnen: er hat uns nichts zu befehlen; oder die Verpflichtung: ich habe noch vieles zu besorgen; er hat noch Schulden zu bezahlen. Das Subjekt braucht nicht immer eine Person zu sein:
das hat viel, wenig, nichts zu sagen, bedeuten. Der Akkusativ kann auch wegfallen: er hat zu tun, zu gehorchen, (ihr) zu danken. Beachtung verdient ein eigentümlicher unpersönlicher Gebrauch, der im 18. Jahrhundert im Gespräch nicht selten war: Schämt euch doch! (Antwort:) Es hat sich zu schämen(C.F.Weiße); Gott behüt' uns in Gnadenes hat sich zu behüten (ironisch gemeint im Sinne von ›an Behüten ist nicht zu denken‹) (Schiller); Rat, Majestät? hat sich da was zu raten! (›da ist kein Raten möglich‹) (Schiller). Dafür stand dann auch einfach (es) hat sich (was): er kommt in Geschäften nach Paris, Vetter? in Geschäften! hat sich wohl(›daran ist nicht zu denken‹) (Schiller); sogar mit einem abhängigen Satz: es hat sich wohl, daß der Herr Hauptpastor den Namen Advokat in seiner eigentlichen Bedeutung nehmen sollte(Lessing). Vgl. L012 Otto Behaghel, Syntax 2,171.
4.5 Unpersönlicher Gebrauch findet sich in Verbindung mit der Präposition mit:
⊚⊚ es hat damit keine Eile/ Gefahr; es hat damit seine Richtigkeit; umgangssprachlich damit hat es sichist es zu Ende, erledigt‹ (M.Frisch, M.Walser; L337 WdG); heute unüblich doch es hat allerlei Bedenkliches damit(Goethe), was hat es denn mit diesem Heiligtume? (Gutzkow); mit bei: dabei hat es sein Bewenden. Umgangssprachlich, besonders südwestdeutsch (L066 Jürgen Eichhoff, Karte 106) es hates gibt‹, wohl unter Einfluß von franz. il y a, früher weiter verbreitet und auch in der Literatursprache: viel Helden hat es jetzt, so hat's auch viel Poeten (Logau); bei Ihnen hat es eine Ausnahme(Lessing); es hat gar keinen Zweifel, daß(E.T.A.Hoffmann). Ungewöhnlich: Hat's denn noch weit bis dahin?(Storm).
5"S073" Die Verwendung von haben als Hilfsverb hat sich wie in den romanischen Sprachen entwickelt. Sie ist zuerst neben dem Partizip transitiver Verben ausgebildet: er hat den Sieg gewonnen ist eigentlich ›er hat den Sieg als einen gewonnenen‹; vgl. ahd. Tatian 102,2 phigboum habeta sum giflanzotanarborem fici habebat quidam plantatam (›Einen Feigenbaum hatte jemand [als] gepflanzten‹). Ein weiterer Schritt war es dann, daß auch das Perfekt von intransitiven Verben mit haben umschrieben wurde. Dabei ist habenin Konkurrenz mit sein getreten. Ursprünglich bestand der Unterschied, daß von denjenigen intransitiven Verben, die etwas Dauerndes, Unabgeschlossenes bezeichnen, das Perfekt mit haben, von denjenigen, die den Abschluß eines Vorganges oder das Geraten in einen Zustand bezeichnen, das Perfekt mit sein gebildet wurde. Doch ist der Gebrauch im Laufe der Zeit manchen Schwankungen und Veränderungen ausgesetzt gewesen. Näheres unter den einzelnen Verben. Statt des Partizips steht der Infinitiv der Verben "dürfen", "können", "sollen", "mögen", "müssen", "lassen" (insbesondere "lassen"[4]), wenn ein anderer von ihnen abhängiger Infinitiv vorhergeht. Fortlassung des Hilfsverbs haben ist in Nebensätzen seit dem Frühneuhochdeutschen nicht selten (vgl. endlich fanden wir den Bauer, den wir so lange gesucht), besonders beliebt bei Lessing. Diese »afinite Konstruktion« (auch bei 2"sein" und "werden") geht im 19. Jahrhundert wieder zurück und ist heute schriftsprachlich ganz unüblich (vgl. W.G.Admoni, Die Entwicklung des Satzbaus der deutschen Literatursprache im 19. und 20. Jahrhundert 1987,114ff.). – Vgl. noch innehaben (↑ "inne"), ⇑ "anhaben", "gehaben", "vorhaben"; ferner ⇑ "Liebhaber", "Teilhaber", "wohlhabend".
Habenichtseiner, der nichts besitzt‹, mhd. habeniht, ⇓ "S188" substantivierter Satz mit ausgelassenem ich wie Habebald (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,10525), Haberecht (den man Haberecht mit Recht genannt[A075 Johann Wolfgang von Goethe, 13,1,10,158]), "Tunichtgut", "Springinsfeld" u. a.; z. T. sind diese Satzwörter, auch: Satznamen wohl als substantivierte Imperativbildungen zu fassen bzw. sind sie umdeutend so gefaßt worden, vgl. W.Henzen, Deutsche Wortbildung 21957, 84.
Habgier 1796 L004 Johann Christoph Adelung für den raffenden Geiz, für den Habsucht schon 1775 bei L003 Johann Christoph Adelung erscheint, noch früher bei Hamann und Hagedorn. Die Bedeutung von ↑ "Geiz" wird um 1750 auf den sparenden Geiz beschränkt.
Habseligkeit (L308 Kaspar Stieler 1691) jetzt nur noch im Plural üblich, gebildet in Analogie zu Trübseligkeit usw., ↑ -{{link}}sal{{/link}}.
Habe Fem. (ahd. ), zu haben(1) ›Vorrichtung zum Festhalten‹: Stift und Habe (Uhland); üblich nur noch in "Handhabe". Veraltend ›Besitz‹, ⇓ "S243" formelhaft Hab und Gut (1537; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), immer ohne -e und so sehr als Einheit empfunden, daß man sagt mein/ sein Hab und Gut; bei Goethe sogar mit allem mobilen Hab und Gut.
habhaft (1555; Otto, in: L239 PBB(H) 97,225), frühneuhochdeutsch und noch ⇓ "S195" schweizerisch auch ›begütert‹; allgemein üblich nur in der Verbindung habhaft werden mit Genitiv, früher auch Akkusativ (vgl. "los"), z. B. ich will nun eilen, ihn wieder persönlich habhaft zu werden (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 12.8.97).
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