Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Gnade
ahd. ginada, mhd. genade (im Ablaut zu got. niþan ›helfen‹, Etymologie unklar) ist die Gewährung einer Schonung oder eines Vorteils, der über das hinausgeht, was beansprucht werden kann. Die Bedeutung ›Ruhe‹ (zu Gnaden kommen) ist wohl schon vorchristlich (vgl. mhd. diu sunne gie ze gnaden›zur Ruhe‹) aus einem ›sich neigen‹ entwickelt; ⇓ "S024" für kirchenlat. gratia verwendeten die irischen Missionare um 700 Gnadeim Sinne von ›huldvolles Zugeneigtsein‹, das sich gegen die anderen Übersetzungsversuche durchsetzte (anst, geba, huldi, eregrehti; vgl. P.Wahmann, Gnade, 1937).1 ⇓ "S110" In religiösem Sinn »Zentralbegriff der christlich-biblischen Gotteserkenntnis« (RGG 2,1640f.), mit "Glaube" verbunden, denn »das einzige der Gnade entsprechende Verhalten des Menschen ist der Glaube, der das nackte Annehmen der Gnade ist« (ebenda 1641), mit dem Merkmal des Herablassenden, Unverdienten »die göttliche Hilfe für den Menschen« (ebenda 1630), daneben heute auch abgeschwächt im Sinn einer »Idee der Freigebigkeit… die die Erlösung als des Menschen höchstes Ziel ermöglicht« (ebenda 1630); seit dem Althochdeutschen
1.1 mit synonymem Barmherzigkeit zusammengestellt: Der dich krönet mit Gnade vnd Barmhertzigkeit (A180 Martin Luther, Psalm 103,4), Er wird Gott bitten / der wird jm gnade erzeigen (A180 Martin Luther, Hiob 33,26);
1.2 zur Bezeichnung göttlicher Güte häufig mit "Gabe" verbunden, auch im sonst nicht möglichen Plural: mit hohen gnaden und gaben gottes gezieret (1579; L059 DWb), Hat Allah zu gemeinem Heil / Der Gnaden vier verliehen (Goethe; Ch.L042 Christa Dill); hierher auch von Gottes Gnaden (13. Jahrhundert) nach gratia dei (1.Korinther 3,10), seit dem 5. Jahrhundert von Kirchenfürsten beansprucht, von Karl dem Großen übernommen zur Legitimierung weltlicher Herrschaft; in der Liturgie Die gnade vnsers Herrn Jhesu Christi sey mit euch / Amen (A180 Martin Luther, 1.Thessaloniker 5,28).
2 Seit dem Althochdeutschen daneben in weltlichem Sinn
2.1 als Rechtsbegriff (vgl. L124 HRG1), "Recht" gegenübergestellt: da von get gnade für daz reht (Hartmann von Aue; L059 DWb), biblisch begründet: Denn die sünde wird nicht herrschen können vber euch / Sintemal jr nicht vnter dem Gesetze seid / Sondern vnder der Gnade (A180 Martin Luther, Römer 6,14); danach im Sinne von ›Vergebung‹ (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch) Einem Missethäter Gnade widerfahren… lassen (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Gnade! Gnade! (Pardon) (L033 Joachim Heinrich Campe);
2.2 auf die Gunst der politischen Obrigkeit bezogen: Ich bin… zu sterben bereit / … Doch, willst du Gnade mir geben – / Ich flehe dich um drei Tage Zeit(A222 Friedrich Schiller, Die Bürgschaft), häufig abwertend mit dem Begriff von Willkür und Unberechenbarkeit: fürsten gnad aprill wetter (Luther; L059 DWb); in privater Sphäre Gnade finden vor jmdm. / vor jmds. Augen(mhd. ) ›jmds. Wohlwollen besitzen‹: Las mich gnade fur deinen augen finden (A180 Martin Luther, 1.Mose 30,27), auf die Umworbene bezogen: getreue Sylvia, hab ich genade funden (Hoffmannswaldau; L059 DWb); seit dem 18. Jahrhundert abgeblaßt in Formeln, die Gnade haben (›geruhen‹) etwas zu tun: Wollen Ew. Durchlaucht die Gnade haben, mir ihre Befehle… zu ertheilen? (L003 Johann Christoph Adelung 1775), zu Gnaden halten im Sinn einer Entschuldigung: Ihr Herrn, der Ruprecht, mein ich, halt zu Gnaden, / Der wars wohl nicht (H.v.A160 Heinrich von Kleist, Zerbrochener Krug 11);
2.3 im Sinne einer konkreten Zuwendung, seit dem Althochdeutschen um Gnade bitten, seine fürstliche durchlaucht… gebeten, ihme die gnade zu erweisen (1696; L059 DWb);
2.4 seit dem Mittelhochdeutschen als Anrede und Titel nach lat. vestra clementia: euer gnaden, abgekürzt ew. gnaden (16. Jahrhundert), auch ihr(e), ihro gnaden. ↑ "Ungnade".
Gnadenbild (1567 Luther; L059 DWb); ursprünglich auf Jesus bezogen allgemeiner: der gnadenbilde ist… Christus am creutz (Luther; L059 DWb); speziell (katholisch) ›Heiligenbild mit wundertätigen Kräften‹;
Gnadenbrot (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch) auf den Lebensunterhalt von Arbeitsunfähigen bezogen das Gnaden-Brod essen (ebenda), auch in bezug auf Tiere, besonders Pferde;
Gnadenfrist ›letzte aus Gnade gewährte Frist‹ (um 1800).
gnadenlos 1420 genodinlosz (L059 DWb); ursprünglich
1 konkret ›ohne die Gnade Gottes‹; übertragen
2 ›hartherzig, erbarmungslos‹ die uhr… zerhackte gnadenlos noch eine stunde (Raabe; L059 DWb);
Gnadenstoß (L169 Matthias Kramer 1702) eigentlich ›Stoß, den der Henker dem auf das Rad Geflochtenen in Herz oder Genick zur Verkürzung seiner Qualen gibt‹; übertragen jmdm. / einer Sache den Gnadenstoß geben(18. Jahrhundert) ›jmdn. ruinieren‹, ›etwas beenden‹;
Gnadentod ⇓ "S145" nationalsozialistisch ⇓ "S064" euphemistisch seit 1939 »zum Ingangsetzen des Euthanasie-Programms« (L362 Christian Zentner/ L362 Friedemann Bedürftig);
gnade Konjunktiv eines seit dem 18. Jahrhundert veralteten Verbs gnaden, ahd. ginadon ›Gnade erweisen‹; seit dem Mittelhochdeutschen v. a. im Wunsch: er ist dahin; genad im got!(Sachs; L059 DWb), seit dem 18. Jahrhundert abgeblaßt gnad uns Gott! »Gott erbarme sich unser!« (L003 Johann Christoph Adelung 1775); drohend: und wer nun mir kommt, dem gnade gott (1844; L059 DWb);
gnädig ahd. ginadig, mhd. genædec; ›gütig, barmherzig‹, ursprünglich
1 auf Gott bezogen, fest in der Wunschformel Gott sei mir gnädig, wie gnade abgeblaßt; im 18. Jahrhundert verallgemeinert ein gnädig schicksal (Schiller; L059 DWb); seit dem Althochdeutschen
2 weltlich gedeutet,
2.1 Einen gnädigen Herren haben (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Einem gnädig seyn (ebenda), häufig ironisch zum Ausdruck der Herablassung behüt uns gott vor… gnedigen herrn (1545; L059 DWb), elliptisch wie gnädig!; mittelhochdeutsch verallgemeinert
2.2 ›wohlwollend, freundlich‹ um gnädige nachsicht bittend (Ebner-Eschenbach; L059 DWb), mit sächlichem Objekt Ich achte nicht deß Mondes Schein / So mir die Sonn will gnadig sein (L105 Georg Henisch); seit dem 14. Jahrhundert
2.3 in der Anrede, zunächst von Adligen, seit dem 18. Jahrhundert mit der Bedeutungsveränderung von "Frau" und "Herr" allgemeiner: ›wer meynen sie wol, gnädige frau… dasz unten im saal ist?‹ (Wieland; L059 DWb), heute veraltend, auch ironisch gebraucht. ↑ "begnadigen"
1.1 mit synonymem Barmherzigkeit zusammengestellt: Der dich krönet mit Gnade vnd Barmhertzigkeit (A180 Martin Luther, Psalm 103,4), Er wird Gott bitten / der wird jm gnade erzeigen (A180 Martin Luther, Hiob 33,26);
1.2 zur Bezeichnung göttlicher Güte häufig mit "Gabe" verbunden, auch im sonst nicht möglichen Plural: mit hohen gnaden und gaben gottes gezieret (1579; L059 DWb), Hat Allah zu gemeinem Heil / Der Gnaden vier verliehen (Goethe; Ch.L042 Christa Dill); hierher auch von Gottes Gnaden (13. Jahrhundert) nach gratia dei (1.Korinther 3,10), seit dem 5. Jahrhundert von Kirchenfürsten beansprucht, von Karl dem Großen übernommen zur Legitimierung weltlicher Herrschaft; in der Liturgie Die gnade vnsers Herrn Jhesu Christi sey mit euch / Amen (A180 Martin Luther, 1.Thessaloniker 5,28).
2 Seit dem Althochdeutschen daneben in weltlichem Sinn
2.1 als Rechtsbegriff (vgl. L124 HRG1), "Recht" gegenübergestellt: da von get gnade für daz reht (Hartmann von Aue; L059 DWb), biblisch begründet: Denn die sünde wird nicht herrschen können vber euch / Sintemal jr nicht vnter dem Gesetze seid / Sondern vnder der Gnade (A180 Martin Luther, Römer 6,14); danach im Sinne von ›Vergebung‹ (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch) Einem Missethäter Gnade widerfahren… lassen (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Gnade! Gnade! (Pardon) (L033 Joachim Heinrich Campe);
2.2 auf die Gunst der politischen Obrigkeit bezogen: Ich bin… zu sterben bereit / … Doch, willst du Gnade mir geben – / Ich flehe dich um drei Tage Zeit(A222 Friedrich Schiller, Die Bürgschaft), häufig abwertend mit dem Begriff von Willkür und Unberechenbarkeit: fürsten gnad aprill wetter (Luther; L059 DWb); in privater Sphäre Gnade finden vor jmdm. / vor jmds. Augen(mhd. ) ›jmds. Wohlwollen besitzen‹: Las mich gnade fur deinen augen finden (A180 Martin Luther, 1.Mose 30,27), auf die Umworbene bezogen: getreue Sylvia, hab ich genade funden (Hoffmannswaldau; L059 DWb); seit dem 18. Jahrhundert abgeblaßt in Formeln, die Gnade haben (›geruhen‹) etwas zu tun: Wollen Ew. Durchlaucht die Gnade haben, mir ihre Befehle… zu ertheilen? (L003 Johann Christoph Adelung 1775), zu Gnaden halten im Sinn einer Entschuldigung: Ihr Herrn, der Ruprecht, mein ich, halt zu Gnaden, / Der wars wohl nicht (H.v.A160 Heinrich von Kleist, Zerbrochener Krug 11);
2.3 im Sinne einer konkreten Zuwendung, seit dem Althochdeutschen um Gnade bitten, seine fürstliche durchlaucht… gebeten, ihme die gnade zu erweisen (1696; L059 DWb);
2.4 seit dem Mittelhochdeutschen als Anrede und Titel nach lat. vestra clementia: euer gnaden, abgekürzt ew. gnaden (16. Jahrhundert), auch ihr(e), ihro gnaden. ↑ "Ungnade".
Gnadenbild (1567 Luther; L059 DWb); ursprünglich auf Jesus bezogen allgemeiner: der gnadenbilde ist… Christus am creutz (Luther; L059 DWb); speziell (katholisch) ›Heiligenbild mit wundertätigen Kräften‹;
Gnadenbrot (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch) auf den Lebensunterhalt von Arbeitsunfähigen bezogen das Gnaden-Brod essen (ebenda), auch in bezug auf Tiere, besonders Pferde;
Gnadenfrist ›letzte aus Gnade gewährte Frist‹ (um 1800).
gnadenlos 1420 genodinlosz (L059 DWb); ursprünglich
1 konkret ›ohne die Gnade Gottes‹; übertragen
2 ›hartherzig, erbarmungslos‹ die uhr… zerhackte gnadenlos noch eine stunde (Raabe; L059 DWb);
Gnadenstoß (L169 Matthias Kramer 1702) eigentlich ›Stoß, den der Henker dem auf das Rad Geflochtenen in Herz oder Genick zur Verkürzung seiner Qualen gibt‹; übertragen jmdm. / einer Sache den Gnadenstoß geben(18. Jahrhundert) ›jmdn. ruinieren‹, ›etwas beenden‹;
Gnadentod ⇓ "S145" nationalsozialistisch ⇓ "S064" euphemistisch seit 1939 »zum Ingangsetzen des Euthanasie-Programms« (L362 Christian Zentner/ L362 Friedemann Bedürftig);
gnade Konjunktiv eines seit dem 18. Jahrhundert veralteten Verbs gnaden, ahd. ginadon ›Gnade erweisen‹; seit dem Mittelhochdeutschen v. a. im Wunsch: er ist dahin; genad im got!(Sachs; L059 DWb), seit dem 18. Jahrhundert abgeblaßt gnad uns Gott! »Gott erbarme sich unser!« (L003 Johann Christoph Adelung 1775); drohend: und wer nun mir kommt, dem gnade gott (1844; L059 DWb);
gnädig ahd. ginadig, mhd. genædec; ›gütig, barmherzig‹, ursprünglich
1 auf Gott bezogen, fest in der Wunschformel Gott sei mir gnädig, wie gnade abgeblaßt; im 18. Jahrhundert verallgemeinert ein gnädig schicksal (Schiller; L059 DWb); seit dem Althochdeutschen
2 weltlich gedeutet,
2.1 Einen gnädigen Herren haben (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Einem gnädig seyn (ebenda), häufig ironisch zum Ausdruck der Herablassung behüt uns gott vor… gnedigen herrn (1545; L059 DWb), elliptisch wie gnädig!; mittelhochdeutsch verallgemeinert
2.2 ›wohlwollend, freundlich‹ um gnädige nachsicht bittend (Ebner-Eschenbach; L059 DWb), mit sächlichem Objekt Ich achte nicht deß Mondes Schein / So mir die Sonn will gnadig sein (L105 Georg Henisch); seit dem 14. Jahrhundert
2.3 in der Anrede, zunächst von Adligen, seit dem 18. Jahrhundert mit der Bedeutungsveränderung von "Frau" und "Herr" allgemeiner: ›wer meynen sie wol, gnädige frau… dasz unten im saal ist?‹ (Wieland; L059 DWb), heute veraltend, auch ironisch gebraucht. ↑ "begnadigen"