Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Gewissen
ahd. giwizzani Fem. , gewizzeni Fem. (Notker zu Psalm 68,20), mhd. gewizzen(e) Fem. ›Wissen, Mitwissenschaft, Erkenntnis dessen, was sich schickt, inneres Bewußtsein‹; ⇓ "S124" Lehnübersetzung von lat. conscientia ›Mitwissen, Bewußtsein, Gewissen‹ (Zusammensetzung aus lat. com- ›gemeinsam‹ und scientia ›Wissen‹; vgl. engl. conscience, aber schwed. samvete), welches seinerseits Lehnübersetzung von gleichbedeutend griech. syneídesis; ahd. giwizzani ist Adjektivabstraktum zu ahd. giwizzan, dem Partizip Prät. zu ahd. wizzan(nhd. "wissen"); das Neutrum ist (unter Einfluß des substantivierten Infinitivs mhd. wizzen Neutr. ) an Stelle des älteren Femininums getreten, das bis in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts (Sachs; L320 Trübner) vorkommt. ›Vermögen, sein Verhalten (relativ zu sittlichen Normen) einzuschätzen, sittliches Bewußtsein, innere Stimmeein gutes, schlechtes, ein ruhiges, reines Gewissen; sein Gewissen belasten, beruhigen; es regt sich das Gewissen, das Gewissen plagt jmdn. ; seinem Gewissen folgen, gegen das Gewissen handeln; redensartlich jmdm. ins Gewissen reden, etwas mit seinem Gewissen vereinbaren können/ müssen, jmdn. / etwas auf dem Gewissen haben,⊚⊚ nach bestem Wissen und Gewissen (17. Jahrhundert; L320 Trübner), ›vollständig und ehrlich‹, sich aus etwas kein Gewissen machenetwas ohne Rücksicht auf das Gewissen tun‹ (vgl. A180 Martin Luther, Römer 14,22), vgl. auch so machte er sich kein Gewissen (hier würden wir daraus hinzusetzen), seine Wächter… zu umgehen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 23,143,26), ich mache mir über Kleinigkeiten kein Gewissen(Gellert); allein des Lasters Sclaven / Quält des Gewissens bange Donnerstimm (A131 Friedrich Hölderlin, Die Nacht), da wir (plötzlich) erwachsen sind / und plötzlich mit-schuldig an unvor- / denklicher Schuld der Erwachsenen; Mitwisser plötzlich / aller Gewissen – (A215 Rainer Maria Rilke, Nicht daß uns), klug zu sein ist heute so gefährlich wie blöde zu sein. / Es ist grausam mit einem Gewissen nichts / verhindern zu können (N.A020 Nicolas Born, Bewegungen). Bei A180 Martin Luther noch einige Male mit näherer Bestimmung, z. B. Sie werden aber komen verzagt mit dem Gewissen jrer sünden(Weisheit Salomos 4,20), aber auch schon ausgebildet als Begriff christlicher Ethik, z. B. Bedeut / das nach gethaner Sünde / das Gewissen angst leidet (Glosse zu 1.Mose 3,8); Religiöse Leute, jeden Glaubens, verstehn unter Gewissen sehr oft nichts Anderes, als die Dogmen und Vorschriften ihrer Religion und die in Beziehung auf diese vorgenommene Selbstprüfung(1840 A231 Arthur Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral §13), so dass das Gewissen der individuelle Nachhall der in der Gattung oft genug erlittenen und mitangesehenen sozialen Strafen ist (1892 G.Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft 407), der Ruf, als welchen wir das Gewissen kennzeichnen, ist Anruf des Man-selbst in seinem Selbst (1927 A115 Martin Heidegger, Sein und Zeit §56), Vom Gewissen sollte man nicht eher sprechen, als bis ein Über-Ich nachweisbar ist (1930 S.A063 Sigmund Freud IX,262).
Gewissensbiß (L308 Kaspar Stieler 1691, vgl. jedoch A180 Martin Luther, Hiob 27,6); Lehnübersetzung von lat. conscientiae morsus; Gewissensbisse haben, spüren,
sich Gewissensbisse machenSchuldgefühle haben‹ (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts; L059 DWb); ⇓ "S075"
Gewissensentscheidung (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts; L059 DWb);
Gewissensfrage (1633; L059 DWb) ›grundsätzliche Entscheidungsfrage der persönlichen Ethik‹;
Gewissensfreiheit (1661 Zesen; L059 DWb), wohl nach franz. liberté de conscience; zunächst
1Religionsfreiheit‹, vgl. im Westfälischen Frieden 1648 conscientiae libertas = Gewissens Freiheit, Gegensatz Gewissenszwang (1521; L059 DWb), bis ins 20. Jahrhundert (1909/ 10; L059 DWb), jedoch seit dem 18. Jahrhundert auch (und heute allein)
2 allgemein ›das Recht, dem eigenen Gewissen zu folgenwer denk-, gewissens- und religionsfreiheit dem menschen raubt (1768 Ernesti; L059 DWb);
Gewissenskonflikt (um 1900; L059 DWbs. v. Gewissenskampf;)
Gewissensnot (1647; L059 DWb);
Gewissensqual (1638; L059 DWb).
gewissenhaft (1. Hälfte des 17. Jahrhunderts; L059 DWb), vgl. älteres gewissenhaftig (Anfang des 16. Jahrhunderts; L059 DWb), erhalten in
Gewissenhaftigkeit (1716; L059 DWb).
gewissenlos (um 1400; L059 DWb) mit
Gewissenlosigkeit (L003 Johann Christoph Adelung 1775).
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