Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
gewiß
ahd. giwis(si), giwisso (Adverb), mhd. gewis (L190 Lexer), alte Partizipialbildung zu "wissen" (frühnhd. L327 Voc.Teut.-Lat. 1482);1 Adjektiv und Adverb, ursprünglich ›was gewußt wird‹, sodann
1.1sicher, unbestreitbar‹, ›ohne Zweifel wahr‹ (schon mhd. ; L190 Lexer): Es ist alles Gewüß war / als gwüß als ich dich / vnd du mich sichst (L200 Josua Maaler); ein gewisser Tod (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); Die Sache ist keinem Zweifel mehr unterworfen, sie ist gewiß (L004 Johann Christoph Adelung); wo von zwei gewissen Übeln eins / Ergriffen werden muß (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod 2,2); Ich weiß = Es ist mir als gewiß bekannt (A281 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit §272);
1.2keinen Zweifel hegend‹, ›sicher‹ im Sinne von ›subjektiv überzeugt‹; zumeist adverbial: für Gewiß halten (L037 Petrus Dasypodius 1536); Gewiß wißen (L308 Kaspar Stieler); Eine gewisse Überzeugung, Erkenntniß, von etwas haben (L004 Johann Christoph Adelung); Er kömmt gewiß (L004 Johann Christoph Adelung); So? Wißt Ihr das gewiß? (A222 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod 2,6); Mit dem Wort »gewiß« drücken wir die völlige Überzeugung, die Abwesenheit jedes Zweifels aus, und wir suchen damit den Andern zu überzeugen (A281 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit §194); bis ins 19. Jahrhundert mit für: Für gewiß / für eine warheit außsagen / sagen (L105 Georg Henisch 1616); mit dem Genitiv: Deß tods Gewüß (L200 Josua Maaler 1561); Einer Sache gewiß seyn, völlig von derselben überzeugt seyn (L004 Johann Christoph Adelung); mit dem Akkusativ: und es ist mein Bruder, das bin ich gewiß! (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 21,90 LH); im 18. Jahrhundert nicht selten mit von: Gewiß? Gewiß? Wovon? (A222 Friedrich Schiller, Don Karlos 2,12); und wir sind zugleich von einer spiralen Tendenz gewiß (A075 Johann Wolfgang von Goethe, II.7,38); seltener mit über: sind sie über das wort, das Kaunitz gesagt hat, gewisz? (Herder; L059 DWb); mit abhängigem Nebensatz: Gewiss ist, dass ich schon damahls einen Ehrgeitz in mir fühlte (A279 Christoph Martin Wieland 32,63); mit zu und Infinitiv: Gewiß, das Weltall zu besiegen, / Blickt er umher, hinab, hinan (A075 Johann Wolfgang von Goethe, 6,184); selten im Komparativ: bis er an seine stat das newe testament einsetzt, und viel gewisser macht denn das alte (Luther; L059 DWb); Den Tyrannen wird Fiesko stürzen, das ist gewis! Fiesko wird Genuas gefährlichster Tyrann werden, das ist gewisser! (A222 Friedrich Schiller, Fiesko 3,1); noch seltener im Superlativ: er fragte mich, welche zeitungen am gewissesten wären? (Grimmelshausen; L059 DWb); substantivisch: etwas gwüsses wüssen (L200 Josua Maaler 1561); in den wissenschaften ist viel gewisses (Goethe; L059 DWb); D. h. es gehört zur Logik unsrer wissenschaftlichen Untersuchungen, daß Gewisses in der Tat nicht angezweifelt wird (A281 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit §342); hierher auch das heute nicht mehr übliche Adverb gewißlich, ahd. giwislihhomit Gewißheit‹ (W.L244 Wolfgang Pfeifer), mhd. gewis(se)liche (L190 Lexer) ›sicherlich‹ (frühnhd. L327 Voc.Teut.-Lat. 1482), »Warlich« (L200 Josua Maaler 1561): Das ist je gewislich war (A180 Martin Luther 1.Timotheus 3,1); Die warheit heiter vnnd Gewüßlich sagen (L200 Josua Maaler); entsprechend (1.1) und (1.2) die Verwendung von ungewiß (L037 Petrus Dasypodius 1536): es ist nichts gewissers als der todt; und nichts ungewissers als die stunde des todes (1581 Heshusius; L059 DWb); Ungewißer Zeuge (L308 Kaspar Stieler); Die Stunde ist ungewiß (ebenda);
2 Adjektiv und Adverb ›fest, zuverlässig, sicher‹ (schon mhd. ; L190 Lexer): Du machest / das beide Sonn vnd Gestirn jren gewissen lauff haben (A180 Martin Luther, Psalm 74,16); Vnd gebt mir ein gewis Zeichen (A180 Martin Luther, Josua 2,12); Gewüsser vnd treüwer bott de man brieff wol vnd sicher darff aufgaben (L200 Josua Maaler); Guter Gewüsser schütz (L200 Josua Maaler); Ein Kupferstecher muß eine gewisse Hand, einen gewissen Grabstichel, ein Mahler einen gewissen Pinsel haben (L004 Johann Christoph Adelung); adverbial der knabe [Amor] schosz gewisz (Logau; L059 DWb); Der Tisch steht nicht gewiß, er wackelt (L004 Johann Christoph Adelung);
3"S209" Sprechhandlungspartikel ›Sprecher gesteht etwas zu, pflichtet bei oder erklärt sich einverstanden‹, besonders häufig als Antwort: gewiß! ich schreibe (L305 Christoph Ernst Steinbach 1734); Gewiß, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine wunderbare Scene mit ihm gehabt (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 16,64 LH); Der vermummte Herr. … Übrigens ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen. Moritz. Gewiß, es wird kühl, meine Herren!(A273 Frank Wedekind, Frühlings Erwachen 3,7); »Gewiß ist es so, ja da kann ich Ihnen unbedingt zustimmen«, antwortete Hans Castorp (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 86); Er sage es selbst: durch ihn hätten sie Naphta kennengelernt, mit ihm hätten sie ihn getroffen, er gehe mit ihm spazieren, er komme zwanglos zu ihm zum Tee herunter; das beweise doch»Gewiß, Ingenieur, gewiß«(ebenda, 571); Zustimmung zur negierten Aussage: »Er wird mirs gewiss nicht übel nehmen.« »Übel nehmen? O gewiss nicht, Perisadeh… « (A279 Christoph Martin Wieland, 8,361);
4 wohl seit dem 16. Jahrhundert (1541 Franck; L059 DWb) in eher pronominaler Bedeutung (wie lat. certus, franz. certain), »gewiß, ein gewisser, quidam, den man nicht nennen will oder kan« (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch), »von solchen Dingen, von welchen man nur einige allgemeine Bestimmungen weiß, oder die man nur allgemein bestimmen will« (L004 Johann Christoph Adelung): Gewüsse vnderschidne vnd bestimpte ort (L200 Josua Maaler 1561); Gewiße Zeit (L308 Kaspar Stieler); es hat mirs ein Gewisser gesagt/ den ich nicht nennen mag (L169 Matthias Kramer 1702); gewisse Cavalliers / gewisse Dames(ebenda); an einem gewissen Ort in Deutschland (A121 Johann Gottfried Herder 15,111); Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht (A281 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit §220); besonders auch bei der Anspielung, wenn Nachteiliges oder Beteiligte nicht ausdrücklich genannt werden sollen: Ey, mein Fräulein ist kein gewisses Fräulein! Es hat meistentheils gewisse Umstände mit denen Leuten, die man gewisse Leute nennt (Schlegel; L004 Johann Christoph Adelung); ein Gewisser, / den ich nicht nennen darf (A222 Friedrich Schiller, Karlos 1,4); besonders häufig in eine gewisse Zeit, in gewisser Weise, Art, Hinsicht, Beziehung, in gewissem Sinne; vor Personennamen, um auszudrücken, daß die den Namen führende Person sonst nicht weiter bekannt ist: eine gewisse Emilia Galotti (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti 1,6); Ein gewisser Damon, ein Mensch, von dem ich weiter nichts weiß, als daß er Damon heißt (L004 Johann Christoph Adelung); dazu das gewisse Etwas habeneine (unerklärliche) Anziehungskraft auf andere ausüben‹; hierher auch gewissermaßen, das ausdrückt, daß eine Behauptung nicht schlechthin, nicht im wörtlichen Sinne gilt;
5 Adverb ›sicherlich, vermutlich‹, ›vielleicht‹ (L169 Matthias Kramer 1702): du hast es gewiß gestolen / weil du es mir so wolfeil anbietest (ebenda); Sie wollen gewiß sehen, ob ich bey einer Lobeserhebung noch roth werde? (Gellert; L004 Johann Christoph Adelung), Es ist gewiß nicht mehr als menschlich! (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 839); ↑ "vergewissern".
Gewißheit ahd. giwisheit (11. Jahrhundert; W.L244 Wolfgang Pfeifer), mhd. gewisheit, auch im Sinne von ›Bürgschaft, Pfand‹, frühnhd. (L308 Kaspar Stieler 1691);
1Zuverlässigkeit‹: Die Gewißheit der Hand, des Pinsels, des Grabstichels (L004 Johann Christoph Adelung);
2Sicherheit des Eintreffens‹, ›ohne Gefahr einer Veränderung‹: Die Gewißheit einer Besoldung, seiner Einkünfte(L004 Johann Christoph Adelung); Die Gewißheit des Todes, des Friedens u. s. f. (ebenda);
3Verläßlichkeit‹: Die Gewißheit einer Zusage(ebenda);
4Sicherheit des Wissens‹: der Glaube ist eine Gewißheit [in uns] derjenigen Dingen/ so nicht erscheinen (L169 Matthias Kramer 1702); Die Gewißheit einer Wahrheit, einer Nachricht u. s. f. (L004 Johann Christoph Adelung); Etwas mit Gewißheit einsehen, Eine Gewißheit von etwas haben, Etwas zur Gewißheit bringen(ebenda); Im Ganzenhaltet euch an Worte! / Dann geht ihr durch die sichre Pforte / Zum Tempel der Gewißheit ein (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 12,98 LH); Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus (A281 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit §115); dazu Ungewißheit (L308 Kaspar Stieler 1691): Es ist lauter Ungewißheit in dieser Welt (L308 Kaspar Stieler 1691).
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