Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Gesicht
Neutr. ahd. gisiht, mhd. gesihte, bis 16. Jahrhundert Femininum;1 zunächst allgemein (⇓ "S015" heute veraltet) ›Vorgang des Sehens‹, Vor meinem plötzlichen Gesicht standen Sie ganz unverletzbar (B.A255 Botho Strauß, Schlußchor 38);
1.1 speziell ›Fähigkeit zum Sehen‹ (wie "Gehör" zu "hören", "Gefühl" zu "fühlen" usw.): vielen Blinden gab er das Gesicht (Luther); ein scharfes, schwaches, kurzes Gesicht; situationsbezogen in festen Verbindungen wie "Auge": was für die gesicht kumpt (L200 Josua Maaler), einen zu Gesichte bekommen (L305 Christoph Ernst Steinbach), etwas fällt (springt) ins Gesicht, etwas ins Gesicht fassen, etwas im Gesicht haben, behalten, etwas kommt aus dem Gesicht; hierher auch ursprünglich Das Gesicht verlieren (L169 Matthias Kramer) ›ehrlos werden‹, nach engl. to lose face; übertragen Du kennest die Tugent nicht von Gesicht (L105 Georg Henisch); Das fordert schärferes Gesicht(A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,5609);
1.2 metonymisch ›Art, wie etwas erscheint, Aussehenunsere Sachen bekommen ein ander Gesicht (J. L.L078 Johann Leonhard Frisch); war nichts am Gesicht und Geschmack der Tafeln auszusetzen (A101 Johann Georg Hamann, Briefe 2,20);
2vorderer Teil des Kopfes‹, gehoben wie "Antlitz" ⇓ "S218" (seit dem 17. Jahrhundert Plural Gesichter), Zusammensetzung "Angesicht" (gehoben): Die Gesicht von einem Ding abwenden(L200 Josua Maaler), einen ins Gesicht schlagen (L169 Matthias Kramer), ein gesicht wie milch und blut(1711; L059 DWb); das stet wol czu gesichte (1485; L059 DWb), übertragen wie ›sich gehören‹: es würde mir schlecht zu gesichte gestanden haben… zu spotten(Thümmel; L059 DWb); übertragen das schlägt allen regeln des anstands ins gesicht (L059 DWb); als Spiegel von Gemütsbewegungen und Charaktereigenschaften, denn: Das Gesicht… ist… der einzige Körperteil, der… so gut wie immer unbekleidet bleibt (B.A254 Botho Strauß, Paare 66), Freundlich Gesicht (L308 Kaspar Stieler), Das Gesicht zeiget den Verstand (L308 Kaspar Stieler), er (sie) hat so ein gut Gesicht (L169 Matthias Kramer), einem etwas am Gesicht ansehen (L169 Matthias Kramer), die Verzweiflung sieht allen aus dem Gesichte (L305 Christoph Ernst Steinbach);
⊚⊚ ein langes gesicht machen (I.Kant; L059 DWb) ›verdrießlich dreinsehen‹, gleichbedeutend ein gesicht wie sieben tage regenwetter (1720; L059 DWb), Gesichter schneiden (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Ich will euch lehren Gesichter machen! (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,2074); sein wahres Gesicht zeigen (A222 Friedrich Schiller, Stuart 3,4); mit dem Merkmal des Ungeschützten: in eyr gesicht sag ich für wor (1517; L059 DWb), einem ins Gesicht sehen können (L169 Matthias Kramer) wenn man es ehrlich meint, Einem Grobheiten in das Gesicht sagen (L003 Johann Christoph Adelung 1775), als Zeichen der Schmähung: er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht (A222 Friedrich Schiller, Der Handschuh, 2.1,276); als Synekdoche ›Mensch‹: zwey neue Gesichter (L003 Johann Christoph Adelung 1775); daneben
3Vision, Erscheinung‹, der ursprüngliche Plural Gesichte hier erhalten; speziell biblisch ›göttliche Offenbarung‹: Doch wil ich komen auff die Gesichte vnd Offenbarung des Herrn (A180 Martin Luther, 2.Korinther 12,1), allgemein diese Fülle der Gesichte (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,520), das zweite Gesicht (L264 Daniel Sanders) nach engl. second sight (L059 DWb) ›Hellsehen‹.
Gesichtskreis 1596 Boterus für "Horizont" (L164 Friedrich Kluge); heute allgemeiner ›das auf einmal Überschaubare‹; seit dem 18. Jahrhundert übertragen ›geistiger HorizontSeinen Gesichtskreis erweitern (L033 Joachim Heinrich Campe);
Gesichtspunkt (1538 Dürer), ⇓ "S124" Lehnübersetzung von lat. punctum visus; ›Blickwinkel‹, seit spätem 17. Jahrhundert (Leibniz) unter Einfluß von franz. point de vue übertragen ›Betrachtungsweise‹;
GesichtsverlustVerlust an Ansehen, Ehre‹, erst jüngst gebucht (L322 UWb), aber zu das Gesicht(1) verlieren (s. oben);
Gesichtswinkel (L033 Joachim Heinrich Campe 1808) gleichbedeutend Gesichtspunkt, wie dieses »neuerdings« (L059 DWb1893) übertragen;
Gesichtszug (1753 Lessing) ›Miene‹, zumeist im Plural.
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