Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Geselle
ahd. gisell(i)o, zu ↑ "Saal", also eigentlich ›der mit jmdm. den Saal teilt‹; danach1der mit einem anderen etwas gemein hat‹, allmählich in der Umgangssprache zurückgedrängt durch "Kamerad", "Kollege", Kompagnon, in der gehobenen Sprache durch "Genosse", "Gefährte": fällt ihrer einer, so hilft ihm sein Gesell auf (Luther), der Zöllner und der Sünder Geselle (Luther), deine Gesellen der Fahrt (Goethe), Betrüglich schloß die Furcht mit der Gefahr / Ein enges Bündniß: beide sind Gesellen (A076 Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie 1639);
2 auch ›Gehilfe‹: Titus welcher mein Geselle und Gehülfe unter euch ist (Luther); insbesondere wie heute zumeist bei Handwerkern ›der dem Meister in der Qualifikation unmittelbar nachgeordnete Facharbeiter‹, älter "Knecht", "Knappe";
3 zu allgemein ›(junger) Mann‹ entwickelt: und buhlete mit allen schönen Gesellen (Luther), junger Geselle, später zusammengezogen "Junggeselle"; die wunderlichen Gesellen (Zigeuner) (Goethe); nur noch scherzhaft bzw. archaisch in Wendungen wie fahrende Gesellen, üble Gesellen, ironisch schöne Gesellen; ⇓ "S140" moviert
Gesellin (mhd. gesellinne).
gesellen ahd. gisellan; allgemein sich zu jmdm. gesellensich anschließen‹,
1.1 aktiv nur literarisch; mit Dativ: Tränen nach Ruhm werden Unsterblichen ihn gesellen (Klopstock); mit zu: die den Menschen zum Menschen gesellt(Schiller), ich wage nicht zu Wanderern die Schritte zu gesellen (Schiller);
1.2 reflexiv mit bloßem Dativ: gesellt er sich in Liebe einer Frau (A.W.Schlegel).
gesellig mhd. gesellec; ursprünglich und bis ins 18. Jahrhundert
1angeschlossen, verbunden‹, übertragen dunkle, gesellige wolken (Klopstock; L059 DWb); daneben
2sich anderen anschließend‹: der mensch ist ein gesellig thier (Geiler von Kaisersberg; L059 DWb), speziell seit dem 18. Jahrhundert im Anschluß an franz. social: je geselliger die menschen leben, desto mehr genieszen sie von dem boden, an dem sie gemeinschaftlich arbeiten (Hamann; L059 DWb), Gegensatz ungesellig: Die herein von den Gefilden / Rief den ungesell'gen Wilden (A222 Friedrich Schiller, Glocke), Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799);
2.1umgänglich, kommunikativ, angenehmgesellige Eigenschaften, Talente, Tugenden, sich gesellig zeigen usw. (L092 GoeWb); Ein geselliges Betragen (L003 Johann Christoph Adelung 1775),
2.2kurzweiliggesellige Spiele, Unterhaltung;
3 früher auch wie heute gesellschaftlich (s. unten) ›die vornehme Gesellschaft betreffend, ausmachendgeselliges Leben, gesellige Welt; Die geselligen Persönlichkeiten in Karlsbad(L092 GoeWb).
Geselligkeit mhd. gesellekeit; im 18. Jahrhundert wichtiger Wertbegriff, vgl. W.Mauser, Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750, In: Aufklärung 4,5ff.;
Gesellschaft ahd. gisellascaft, mhd. geselleschaft; ›Zusammenschluß‹,
1.1 mit dem Begriff des Zweckhaften, bis ins 16. Jahrhundert ›fürstliches Gefolge‹, ›Gruppe von Soldaten‹; im privaten Bereich
1.1.1 räumlich allgemein ›Gemeinschaft‹: schiffart einer burgerlichen geselschaft (Fischart; L059 DWb); seit dem Mittelhochdeutschen speziell mit dem Begriff der Unterhaltung auf eine kleinere oder größere Menschengruppe bezogen »geselligkeit« (L105 Georg Henisch): die Verschiedenheit der Sitten… macht es sehr schwer,… in Gesellschaften zu gefallen (A163 Adolf Freiherr von Knigge, 3Umgang 28), auch reflexiv: über den Umgang mit Menschen seine eigene Gesellschaft vernachlässigt (A163 Adolf Freiherr von Knigge, 3Umgang 82); als Personalkollektiv: Die Gesellschaft ging in das Nebenzimmer (L003 Johann Christoph Adelung 1775); auch auf die Veranstaltung übertragen: die Gesellschaften lieben (L169 Matthias Kramer), Wir wünschten zu wissen, ob Sie… kommen, weil wir… unsere geschlossene Gesellschaft… halten (A222 Friedrich Schiller an Goethe 18.2.02); daneben seit dem Althochdeutschen ohne den Begriff des Unterhaltenden
1.1.2 auf den Bekannten-, Freundeskreis bezogen: dasz ich in dein gesellschafft je kommen bin (1540; L059 DWb); speziell im Sinne von ›Beisammensein‹, ›Begleitung‹: geselschafft guter freunde (Luther; L059 DWb), abwertend: daß ich dich in der Gesellschaft seh' (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3470); in festen Fügungen jmdm. Gesellschaft leisten (mhd. ), in Gesellschaft seyn (L169 Matthias Kramer), einen aus der Gesellschaft… stoßen (L305 Christoph Ernst Steinbach), Eines Gesellschaft fliehen, meiden (L003 Johann Christoph Adelung 1775), Er ist gerne in Gesellschaft (L003 Johann Christoph Adelung 1775); seit dem Mittelhochdeutschen mit Aufgabe der räumlichen Vorstellung: Gesellschaft ist eine würkliche Vereinbarung der Kräfte vieler zur Erlangung eines gemeinschafftlichen Zweckes (L361 Johann Heinrich Zedler 1735); speziell
1.1.3"S106" kaufmannssprachlich ›wirtschaftliche Handelsgemeinschaft‹: Meinstu / die Gesellschafften werden jn zuschneiten / das er vnter die Kauffleute zuteilet wird? (A180 Martin Luther, Hiob 40,25), dazu Handelsgesellschaft (1674 L308 Kaspar Stieler; L277 Alfred Schirmer, Kaufmannssprache), Aktiengesellschaft (1833; ebenda), G. m. b. H. (1893; ebenda);
1.1.4 auf die Vereinigung Gleichgesinnter bezogen Fruchtbringende Gesellschaft oder Palmenorden (gegründet 1617), es sollten einige… Personen… eine ›deutschgesinnte Gesellschaft‹ stiften (A173 Gottfried Wilhelm von Leibniz; in Weim. Jahrb. 3,109), jmd. in die Gesellschaft aufnehmen (L169 Matthias Kramer), eine Monatsschrift [die Horen] … , zu deren Verfertigung eine Gesellschaft bekannter Gelehrten sich vereinigt hat (A222 Friedrich Schiller an Goethe 13.6.94), dazu Lesegesellschaft;
1.2 ohne den Begriff des Zweckhaften
1.2.1 allgemein im Hinblick auf gemeinsame Merkmale: die junge gesellschaft paret sich zusammen (1567; L059 DWb), bei einer lustigen gesellschafft junger kauffleute(Grimmelshausen; L059 DWb); seit dem 18. Jahrhundert unter Einfluß von franz. société
1.2.2 als theoretischer Begriff ›unter bestimmten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen lebende Menschen‹: für den dürftigen unterhalt, den ihm die gesellschaft reicht, arbeitet er zu ihrem dienste (Wieland; L059 DWb), ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft (L003 Johann Christoph Adelung 1775); im 18./ 19. Jahrhundert, heute veraltend speziell ›Oberschicht‹: der Ton der guten Gesellschaft (L003 Johann Christoph Adelung 1775), den… kastenansprüchen der gesellschaft (Gutzkow; L059 DWb); speziell als ⇓ "S175" politischer Begriff: Man muß… für die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze aufsuchen, die sie von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig macht (A222 Friedrich Schiller, Ästhetische Erziehung; 20,314f.); in der festen Verbindung bürgerliche Gesellschaft »die zusammen verbundene Obrigkeiten und Untertanen / welche ein gewisses Reich Republic u.dgl. ausmachen« (1711; L086 GG2,739); aufklärerisch gedeutet: Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann: ich würde sie auch bey grössern Uebeln noch segnen (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk; 13,359), daher Zweck der bürgerlichen Gesellschaft… religiös sittliche, und geistige Veredlung des Menschen (1826; L086 GG2,774); dann Gegensatz "Staat", besonders ⇓ "S032" von A113 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlage der Philosophie des Rechts, manifestiert: Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt (Werke [Glockner] 7,262); in marxistischer Auslegung: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen (1848 Marx/ Engels, Manifest; A186 Karl Marx/ A186 Friedrich Engels 4,462), dazu Klassengesellschaft, industrielle Gesellschaft (Dahrendorf 1957); im Sinn eines soziologischen Begriffs nach kulturellen Merkmalen bestimmt: Übergang aus den häuslichen Gesellschaften in die bürgerliche… von der Wildheit zur Cultur (1792; L086 GG2,751), alltagssprachlich popularisiert seit Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders mit L388 Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft(1851); im früheren 20. Jahrhundert in der Abgrenzung: Gemeinschaft… ein lebendiger Organismus, Gesellschaft… ein mechanisches Aggregat und Artefakt (F.Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft 1926, 5); psychoanalytisch gedeutet: daß im Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen (S.A063 Sigmund Freud IX,439); vgl. auch L138 HWbPh 3; dazu für späteres "Soziologie": Wissenschaft der Gesellschaft (1810; L086 GG2,841), Gesellschaftenwissenschaft (1838; L086 GG842),
Gesellschaftswissenschaft (L059 DWb);
Gesellschaftsanzug (L059 DWb);
Gesellschaftsordnung »die sociale einrichtung der menschlichen gesellschaft« (L059 DWb), so besonders im ⇓ "S129" Marxismus;
Gesellschaftsreise nach 1920;
Gesellschaftsspiel (L033 Joachim Heinrich Campe);
Gesellschaftsstück ursprünglich »Pendant« (L004 Johann Christoph Adelung), also ›Gegenstück‹, dann ›Gemälde mit Gesellschaftsszenen‹, heute ›Theaterstück, das das Leben der gehobenen Gesellschaft zum Thema hat‹;
Gesellschaftsvertrag (L033 Joachim Heinrich Campe) nach Rousseau, contrat socialÜbereinkunft der Mitglieder einer Gesellschaft, das Allgemeinwohl über den Willen des einzelnen zu stellen‹;
Gesellschafter (1517; L277 Alfred Schirmer, Kaufmannssprache)
1 kaufmannssprachlich ›Kompagnon‹; daneben
2Mitglied einer Vereinigung‹; dann auch
3Unterhalter‹: Der Mensch ohne Form… kann es dem Günstling der Grazien nicht vergeben, daß er als Gesellschafter alle Zirkel aufheitert (A222 Friedrich Schiller, Ästhetische Erziehung; 20, 337); ⇓ "S140" moviert
Gesellschafterin (1638; L059 DWb); zu Gesellschafter(3) im Sinn einer Berufsbezeichnung heute veraltend; heute v. a. zu Gesellschafter(1);  
gesellschaftlich (L305 Christoph Ernst Steinbach) ursprünglich wie gesellig (s. oben): ein gesellschaftliches Thier (L305 Christoph Ernst Steinbach); v. a. zu Gesellschaft(1.1.1, 1.1.2): kleine gesellschaftliche Unschicklichkeiten (A163 Adolf Freiherr von Knigge, 3Umgang 65), gesellschaftliches Ereignis; mit dem Merkmal ›unterhaltend‹: dieses einzige gesellschaftliche vergnügen (Schiller an Goethe; L059 DWb); heute zumeist zu Gesellschaft(1.2.2), Ch.Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen (1721).
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