Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Genie
Neutr. , zuerst auch Mask. , Plural Genies, < franz. génie ›Begabung, Geist, Talent‹ nach lat. genius›Schutzgeist‹, dann ›schöpferische Begabung, Talent‹, wohl auch für lat. ingenium u. a. ›Charakter, Begabung‹; zuerst 1706 (Menantes; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) im Sinne von1natürliche Anlage, Geschicklichkeit‹, durchgesetzt durch J.A.Schlegels Übersetzung von J.Batteux' ›Les beaux arts réduits à un même principe‹ (von 1746) unter dem Titel ›Die schönen Künste aus einem Grundsatz hergeleitet‹ (1751); hier z. B. das genie gleicht der erde, welche nicht eher etwas hervorbringt, als bis sie den samen dazu in sich empfangen hat(L059 DWb); Anton hatte über dem nicht viel Genie zur Musik (A193 Karl Philipp Moritz, Reiser, Teil 1,81); ⇓ "S127" von Geniehat Gellert in seinen Vorlesungen »ausgiebigen Gebrauch gemacht« (L059 DWb), er übersetzt ingenium mit Genie im Sinne von
2 »angeborene Anlage, die nicht in einer Kunst weitergegeben wird« (L138 HWbPh): es wird Genie, es wird eine gewisse natürliche Größe und Lebhaftigkeit der Seele erfordert (C.F.Gellert, Von dem Einfluße [… ]; Sämmtliche Schriften 2,119). Genie»wird der Begriff, durch den die sich bildende ästhetische Subjektivität als Ursprung und Grund aller künstlerischen Hervorbringung und der in ihr vermittelten ästhetischen Wahrheit begriffen und aufgefaßt wird« (L138 HWbPh). A177 Gotthold Ephraim Lessing führt den Begriff weiter, indem er Shakespeare als Geniezum Vorbild empfiehlt: Denn ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden (Briefe, die neueste Litteratur betreffend 1759, Nr. 17; 8,43); A075 Johann Wolfgang von Goethe ließ sich »entzünden« (1771 ›Zum Shakespeares Tag‹), und so wurde Genie zum Synonym für
3 »Schöpferkraft« (L063 Johann August Eberhard 1798): Denn da es [das Genie] alles sich selbst verdankt… : so schafft es sich neue Bahnen und bringt neue Schöpfungen ans Licht (L063 Johann August Eberhard 1798). I.A152 Immanuel Kant präzisiert und reglementiert: Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt (Kritik der Urteilskraft §46). Im 19. Jahrhundert wird Genie unterschiedlich akzentuiert, die »Genie-Theorie in ihrer letzten ›metaphysischen‹ Begründung« (L138 HWbPh) geht mit Nietzsche zu Ende; in psychopathologischer und soziologischer Sicht wird weiter über Genie gehandelt. In der Sprache des Umgangs ist Genieschon im 19. Jahrhundert (und zuvor) der
4.1hochbegabte und schöpferische Mensch‹: Solchen Dichter von der Gnade / Gottes nennen wir Genie (Heine; L266 Daniel Sanders, FWb), auch abwertend Ein liederliches Genie (Danzel; ebenda), ein… überspanntes Genie (Fichte; ebenda), wie auch allgemein
4.2schöpferische Geisteskraft, ErfindergeistSo schreitet das Genie des deutschen Gewerbfleißes rastlos zu neuen Erfindungen vor (L388 Wilhelm Heinrich Riehl, Bürgerliche Gesellschaft 259). – ⇓ "S207" Die Kritik von Geniebeginnt schon in der Geniezeit (1842 G.G.Gervinus, Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, 5,655), so etwa 1785 von Campe: Der Rhein kam mir nemlich hier [Rheinfall bei Schaffhausen] gerade wie ein junges Genie in derjenigen Bedeutung vor, worin man dieses Wort seit ohngefehr zehn Jahren in Dt. zu nehmen gewohnt ist, und nach welcher es einen zwar kraftvollen, aber aufbrausenden jungen Geist bedeutet, der etwas Ungewöhnliches, Seltsames und Auffallendes affectiert; [der] aus innern Drang und im Sturme handeln zu können wähnt (J.H.Campe, Reise des Herausgebers von Hamburg bis in die Schweiz im Jahr 1785, 378f.), vgl. das Wort Genie ward eine allgemeine Losung, und weil man es so oft aussprechen hörte, so dachte man auch, das, was es bedeuten sollte, sei gewöhnlich vorhanden (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit 19.Buch). Herder spricht kritisch vom Geniewesen (1783; L059 DWb), A075 Johann Wolfgang von Goethe vom "Geniestreich" (heute im Sinne von ›originelle Tat‹, vielfach leicht ironisch, ↑ "streichen"), wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen unternahm (Dichtung und Wahrheit 29,147,3). Vgl. J.Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, 2 Bde.,1985.
genialisch (1771; L092 GoeWb) zu Genie unter äußerlicher Anlehnung an das bedeutungsverschiedene lat. genialis gebildet mit deutscher Endung wie idealisch, infernalisch, kolossalisch (↑ "Koloß"), sentimentalisch (↑ "sentimental"), "theatralisch"; seit 1800 wird es allmählich durch die Verkürzung
genial (»eine eigenthümlich deutsche prägung« L059 DWb) abgelöst: dem genialen Geschlecht wird es im Traume beschert(1797 Schiller); offenbar früh auch umgangssprachlich: man ein unerwartetes, von der Regel weichendes Betragen unter den Weimarischen Dienstmädchen oder Lehrburschen wohl genial zu nennen pflegt (1808 Voß; L360 ZDW 3,254); vor allem fleißig und verläßlich, kein genialer Bummler (A.A226 Arno Schmidt, Trommler 198). Im Nebeneinander bekam das ältere Wort zuweilen einen gewissen kraftgenialischen Klang: es ist mehr als jemals nötig, genialisch zu sein, wenn man nur einigermaßen leben… will (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 20.3.1807). Wortfeld ↑ "klug".
Genialität 1778 Lavater.
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