Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Gemüt
ahd. gimuoti, mhd. gemüete, Kollektivum zu ↑ "Mut"; daher ursprünglich wie dieses1Gesamtheit der seelischen Kräfte‹: erneuert euch aber im Geist eures Gemüts (Luther), ergötzt sich das Gemüt an einem leichten und geistreichen Ideengang, und das Herz an einem Strom von Gefühlen(Schiller); dazu im 18. Jahrhundert Gemütskräfte wie Seelenkräfte; besondere Verbindungen: sich etwas zu Gemüte ziehen (späteres 17. Jahrhundert) veraltet ›zu Herzen gehen lassen‹, jmdm. etwas zu Gemüte führen(L169 Matthias Kramer) ›beweglich vorstellen‹, sich zu Gemüte führen umgangssprachlich ›zu sich nehmen‹ (18. Jahrhundert, von L003 Johann Christoph Adelung 1775 als »niedriger Scherz« bezeichnet); personifiziert: frume, redliche gemüete (Luther; L059 DWb), lob und rhum, welchem die edelsten gemüter nachtrachten(Opitz; L059 DWb), wie "Seele": sie ist ein sonniges Gemüt;
2 frühneuhochdeutsch und vereinzelt noch bei Goethe ›Lust, Neigung‹;
3 seit spätem 18. Jahrhundert Gegensatz "Verstand", "Geist": nach seinem gemüth wirst du… mehr fragen, als nach seinem geist und genie (Schleiermacher; L059 DWb), danach speziell
3.1Sitz der inneren Empfindung‹, so zumal durch den Romantiker F.Schlegel ausgedeutet: die eigentliche Lebenskraft der inneren Schönheit und Vollendung ist das Gemüt. Man kann etwas Geist haben ohne Seele, und viel Seele bei weniger Gemüt (1798 F.Schlegel, Athenäums Fragmente; Kritische Schriften, hg. W.Rasch, 31971, 66); nationalistisch gedeutet wie "Wesen": zu ehre deutschen geblüts und gemüths (Fichte; L059 DWb); ⇓ "S207" die Verflachung der Bedeutung von Goethe kritisiert: das wort gemüt… jetzt heißt es nur: nachsicht mit schwächen, eigenen und fremden (L059 DWb); als Zentralbegriff der Biedermeierzeit
3.2 mit Betonung der Wärme seelischer Empfindungen: Mit dieser geistigen Wärme die Welt in sich und sich in der Welt vernehmend heißt der Charakter Gemüt, und dies gibt ihm zu der Schneide die Innigkeit (1847/ 48 A315 Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik 2, §334); polarisierend: wohl ist der verstand… an sich mehr feind als freund des gemüths (Wienbarg; L059 DWb), der Seele zugewiesen: Und, sprich, was ist denn deine Gabe, / Gemüth, der Seele Iris Du? (A042 Annette von Droste-Hülshoff, Gemüth).
gemütlich mhd. gemüetlich; ursprünglich
1 auf die inneren Seelenkräfte bezogen: der Staat will alles zu öffentlichen, allgemeinen Zwecken, der Einzelne zu häuslichen, herzlichen, gemütlichen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit 28,41,19); das so viel gemütliche und körperliche Anstrengung erfordert (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 6.3.1826);
2 seit dem 16. Jahrhundert zu Gemüt(2) ›der Neigung entsprechend‹ bis ins 19. Jahrhundert: er bedient sich meines Umgangs so viel, als ihm gemütlich ist (Wieland), ein Heft, aus dem sie sich, was ihr gemütlich war, ausgeschrieben (Goethe), an der ihm gemütlichen Stelle(Goethe), wenn es Ihnen recht und gemütlich sein wird(E.T.A.Hoffmann);
3 zu gleicher Zeit Anlehnung an Gemüt(3); im Anschluß an ⇓ "S170" pietistischen Sprachgebrauch bei A075 Johann Wolfgang von Goethe vertieft (Sperber, L058 DVjS8, 504) im Sinne von ›gemütvoll, gefühlvoll‹: ich trug sie um so gemütlicher vor, als meine Gedichte mir noch ans Herz geknüpft waren (Dichtung und Wahrheit 28,287,3); das eigentlich Menschliche… welches immer zuletzt, wenn auch im höchsten Sinne, das Gemütliche bleibt (41.2, 277,13). Die Herkunft hatte 1774 schon Klopstock gekennzeichnet: mit den Herrnhutern… zu reden, gemütlich, oder es etwas weltlicher auszudrücken, empfindsam.
4 Im 19. Jahrhundert über die Merkmale ›sentimental-schwachmütig‹ (Gervinus) und ›oberflächlich‹ (G.Keller) auch abgesunken (der alte Arndt, ein gemütlicher, geschwätziger Alter A263 Heinrich von Treitschke, Brief vom 17.5.1951) bis zu ›spießbürgerlich‹: Wir sind Germanen, gemüthlich und brav, / Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf (A118 Heinrich Heine, Zur Beruhigung);
5das Gemüt(3.2) ansprechend, angenehm, behaglich‹, situationsbezogen ›zwanglos‹, ›heimeligdas gemütliche deutsche Kneipenleben (L388 Wilhelm Heinrich Riehl, Familie 292),
es sich gemütlich machen (L059 DWb); im Sinne von ›gemächlichdie wanderung nun gemüthlicher fortzusetzen (Immermann; L059 DWb), daher umgangssprachlich (ganz) gemütlich auch ›langsam‹; in ironischer Verkehrung: eine gemütliche Keilerei. ⇓ "S075"
Gemütlichkeit L003 Johann Christoph Adelung 1775, ursprünglich zu Gemüt(2 und 3); seit dem 19. Jahrhundert auch abwertend, kritisch reflektiert: Gemütlichkeit… dieses Element einer halbsinnlichen wohligen Behaglichkeit bezeichnet keineswegs… im Kampf errungene Umbildung,… geistige Liebe (1847/ 48 A315 Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik 2, §334); umgangssprachlich seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts: da hört die Gemütlichkeit auf: daß bei Geldsachen die Gemütlichkeit aufhöre (1851 L388 Wilhelm Heinrich Riehl, Bürgerliche Gesellschaft, 286)
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