Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
gemein
ahd. gimeini, mhd. gemeine, altgermanisch (engl. mean), verwandt mit lat. communis"S026" wie "allgemein"1allen zukommend, gemeinsam‹, häufig in festen Verbindungen, Gegensatz "eigen": Gemeiner Nutz (L105 Georg Henisch), gemeinen Frieden erhalten (Luther), eine gemeine Rede… bei den Juden (Luther), nach der gemeinsten und wahrscheinlichsten Meinung (Lessing), die Kette, die den besonderen Satz an den gemeinen bindet (Haller), eine Folge von einem gemeinen Gesetze der Natur (I.Kant), die gemeine ewige Ordnung(Schiller), das gemeine Recht noch fachsprachlich, Gegensatz besonderes Recht (der einzelnen Territorien), das gemeine Deutsch der kaiserlichen Kanzlei, ich… brauche der gemeinen teutschen sprach(Luther; L059 DWb); hierher auch gemein machen »vnter das gemeine Volck außbringen« (L105 Georg Henisch), im Sinne von ›veröffentlichen‹ von Schriften (Möser, Lessing); sehr häufig früher speziell auf politische Gemeinschaft bezogen: das gemeine Wesen, wohl Nachbildung von lat. res publica (noch bei Goethe und Jean Paul), aus dem gemeinen Schatze (Gellert), auf Kosten des gemeinen Seckels(Wieland), das gemeine Beste, die gemeinen Bürgerzur Gemeinde gehörigen‹ (noch bei Wieland), in den Marstall gemeiner Stadt Abdera (ohne Artikel) (Wieland); in Zusammensetzungen Gemeinland, Gemeinweide, Gemeingut, Gemeinwesen (s. unten); auf Gemeinschaft zwischen bestimmten einzelnen Wesen bezogen alle waren bei einander und hielten alle Dinge gemein(Luther), gemeine Sache (machen) noch bei Wieland, Schiller u. a., jüngere beklagen mit mir unser gemeines Geschick (Goethe); erhalten in nichts mit jmdm. gemein haben: zwei Menschen, die nichts miteinander gemein hatten (A034 Elias Canetti, Blendung 439), ursprünglich auch nicht negiert: ich habs Gemein mit jm (L200 Josua Maaler); daraus entwickelt ›vertrautverlaß dich nicht darauf, daß er [ein Gewaltiger] dir sehr gemein ist (Luther); besonders sich mit jmdm. gemein machensich mit jmd. auf eine Stufe stellen‹, ursprünglich (frühnhd.) neutral, im 18. Jahrhundert pejorativ, vgl. Genießen macht gemein (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,10259).
2allgemein verbreitet, gewöhnlich‹: das gemeine Volk, gemeiner Mann, Gegensatz Adliger (↑ "Adel"), Kleriker (↑ "Klerus"), "Gelehrter"; militärisch gemeiner Soldat (L105 Georg Henisch), substantivisch die Gemeinen; als Beiwort bei Pflanzen- und Tiernamen: in der Grosse/ wie ein gemeiner Apfel (L169 Matthias Kramer), naturwissenschaftlich seit Ende des 18. Jahrhunderts (Nemnich 1793ff.; L059 DWb); im gemeinen Leben, der gemeine Menschenverstand (engl. common sense), gemeine Gedanken usw.; speziell ›üblich, geläufig, häufigWenn einer ein Frauenzimmer schön nennet, so ist nichts gemeiner, als dieß Beywort (A080 Johann Christoph Gottsched, Critische Dichtkunst 41751, 247); Das Silbergeld ist bey uns… nicht gemein (L003 Johann Christoph Adelung 1775);
3.1"S031" von da aus (mit Anfängen im 15. Jahrhundert) im 18. Jahrhundert Gegensatz zu "edel", verächtlich ein gemeines Gesicht, ein gemeiner Gedanke (L003 Johann Christoph Adelung 1775);
3.2 im 19. Jahrhundert psychologisiert zu ›niedrig gesinnt, niederträchtig‹, andeutungsweise in der Klassik: was uns alle bändigt, das Gemeine (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Epilog zu Schillers Glocke); Gemein ist alles, was nicht zu dem Geiste spricht und kein anderes als ein sinnliches Interesse erregt (Schiller, Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen; 20,241); Die Buhlerin! Das nenn' ich doch gemein! (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,6525). Vgl. D.Schlechter, Der Bedeutungswandel des Wortes gemein im 19. Jahrhundert, 1955.
Gemeingeist (1785 F.H.Jacobi) ⇓ "S124" Lehnübersetzung von engl. public spirit; »lebhafte und thätige Theilnahme am gemeinen Besten« (L033 Joachim Heinrich Campe), wie Gemeinsinn (s. unten) heute durch Gemeinschaftsgeist, Gemeinschaftssinn ersetzt;
gemeingefährlich (L059 DWb); ›der Allgemeinheit schadend‹, häufig ⇓ "S181" rechtssprachlich: ein gemeingefährlicher Verbrecher;
Gemeingut (G.A.Bürger), häufig übertragen geistiges Gemeingut;
gemeinnützig (1538; L059 DWb), Gemeinnutzige Unternehmungen (L033 Joachim Heinrich Campe), anstalten (L059 DWb);
Gemeinplatz (1490 J.Herold; L365 ZGL20,233) ⇓ "S124" Lehnübersetzung von lat. locus communis, später unter Einfluß von engl. commonplace, dafür im 18./ 19. Jahrhundert auch Gemeinspruch (L092 GoeWb), Gemeinort, Gemeinsatz; ›Trivialität, Binsenweisheit‹: Unterhaltungen darüber wurden meistens mit dem Gemeinplatz abgeschlossen, Gegensätze zögen einander nun einmal ebensooft an, wie gleich und gleich sich gern geselle (H.A151 Hermann Kant, Aula 44);
Gemeinsinn (L308 Kaspar Stieler 1691) ⇓ "S124" nach lat. sensus communis, engl. common sense; ursprünglich ›allgemeiner Menschenverstand‹, seit Herder wie Gemeingeist (s. oben): Was Gemeinsinn sei, wissen wir in Deutschland so wenig, daß man sogar nach dem Worte in Ad. [Adelungs] Wörterbuche vergeblich sucht (L033 Joachim Heinrich Campe), heute Gemeinschaftssinn;
Gemeinsprache"S208" vorbereitet durch Luthers »lingua communis« ›(all)gemeine Sprache‹, zuerst ⇓ "S032" bei L033 Joachim Heinrich Campe: Kein Theil unsers gemeinsamen Vaterlandes… soll sich anmaßen, seine besondere Mundart den andern Theilen als Gemeinsprache aufzudringen (1807, VII). Von L033 Joachim Heinrich Campe als zusammenfassender Begriff für die gesprochene Umgangssprache und die geschriebene Schriftsprache verstanden. So seither mit Nuancierungen weiterentwickelt, v. a. den Mundarten, Sonder- und Fachsprachen (W.Porzig, Das Wunder der Sprache 1962, 217ff.) gegenübergestellt.
Gemeinwesen (L308 Kaspar Stieler 1691), ⇓ "S124" Lehnübersetzung von lat. res publica; »die Verbindung zu einer Gesellschaft« (L033 Joachim Heinrich Campe): das gelehrte Gemeinwesen(Kosegarten; L059 DWb), auch ›Staatpolitisches gemeinwesen (Jean Paul; L059 DWb); Es ist ein gemeines Wesen unter uns, aber kein Gemeinwesen (A021 Ludwig Börne, Gesammelte Schriften 4,152).
Gemeinwohl (Voß; L033 Joachim Heinrich Campe) wohl Lehnübersetzung von engl. common weal; »das Beste… der ganzen Gesellschaft« (L033 Joachim Heinrich Campe);
gemeinsam ahd. gimeinsam; zunächst ›gemeinschaftlich‹: ein prächtiger grabstein, auf gemeinsame kosten errichtet (Kosegarten; L059 DWb), das gemeinsame europäische Haus (Wortrenner der DDR 1988 nach einer Metapher Gorbatschows 1987); dann auch ›mehreren zugleich gehörend, eigen‹: des Todes Los, das gemeinsame (Voß; L033 Joachim Heinrich Campe); bis ins 18. Jahrhundert auch im Sinne von ›vertraut‹ (vgl. L003 Johann Christoph Adelung 1780); dazu
Gemeinsamkeit (L327 Voc.Teut.-Lat. 1482);
Gemeinschaft ahd. gimeinscaf;
1durch etwas miteinander verbundene Gruppe‹, ursprünglich auch im Sinne von ›Gemeinde‹, allgemeiner die Gemeinschaft der Heiligen(mhd. ), der Volcker (L305 Christoph Ernst Steinbach); im Sinne von ›Verbindendesder Mensch hat keine Gemeinschaft mit Gott (L305 Christoph Ernst Steinbach), mit sächlichem Objekt ›Anteil‹: die Gemeinschaft der Güter (L003 Johann Christoph Adelung 1775); daneben
2 »gesellschafft« (L105 Georg Henisch) im Sinne von ›Zusammensein‹, häufig in der festen Verbindung in Gemeinschaft (mit): hoffen, daß wir soviel von dem Wege noch übrig sein mag, in Gemeinschaft durchwandeln werden (A222 Friedrich Schiller an Goethe 31.8.94); dazu
gemeinschaftlich (L308 Kaspar Stieler 1691); im Sinne von ›mehreren zu eigenein gemeinschaftlicher feind (Schiller; L059 DWb), rechtssprachlich gemeinschaftlicher Mord; adverbial gemeinschaftlich speisen (L003 Johann Christoph Adelung 1775);
gemeinhin ursprünglich in der gemeinde hin (16. Jahrhundert; L059 DWb); ›gewöhnlich‹;
Gemeinheit (mhd. ) gemein folgend bis Anfang des 19. Jahrhunderts ›Gemeinde‹: Privilegien der Gemeinheiten (Schiller), auch allgemeiner: Gesellschaften, Gemeinheiten, Innungen(Wieland); seit frühem 19. Jahrhundert Gegensatz von "Besonderheit": zäheit, plattheit und gemeinheit(J.G.Fichte; L059 DWb); dann wie heute nur noch ›Niedertracht‹: bodenlose gemeinheit (L059 DWb), mit gemeinheiten um sich werfen (L059 DWb);
Gemeinde ahd. gimeinida, gleichbedeutend und bis ins 18. Jahrhundert auch Gemeine (vgl. J. L.L078 Johann Leonhard Frisch), ahd. gimeini; zunächst bis ins 19. Jahrhundert im Sinne von ›Allmende‹ auf gemeinsamen Grund und Boden bezogen; danach seit dem Mittelhochdeutschen
1 im Sinn einer politischen Verwaltungseinheit ›Dorf‹, ›Stadt‹, dazu heute umgangssprachlich ein Zug durch die GemeindeKneipenbummel‹; metonymisch auch von den Bewohnern, speziell im Sinn der politischen Verwaltung: der Rath und die Gemeine (L305 Christoph Ernst Steinbach); speziell schweizerisch "Landsgemeinde" ›Gemeindeversammlung‹, dazu schweiz. gemeinden, allgemein nur noch in eingemeinden, vgl. L124 HRG1; allgemein
2durch gleiche Interessen verbundene Gruppe von Menschen‹, religiös: Die Gemeinde der Christenheit(mhd. ), dazu Kirchengemeinde; auf die Verehrer von Künstlern bezogen wie Freunde: Den Vortheil hat der Dichter: / Wie die Gemeinde prüft und probt, / So ist sie auch sein Richter (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien IV,815), dazu Goethegemeinde, Wagnergemeinde, allgemeiner ›Gemeinschaft‹: die ganze Gemeinde der Wissenschaftler (A159 Heinar Kipphardt, Oppenheimer 271).
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