Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Geist
(ahd. ) westgermanisch (engl. ghost), verwandt mit got. usgaisjan ›außer sich bringen‹ und altnord. geisa›wüten‹. Die vorchristliche Bedeutung war wohl etwa ›belebende, göttliche Kraft‹, die man ursprünglich in der religiösen (schamanischen?) Ekstase wirksam gesehen hatte (vgl. W.Betz, in: Liturgie und Mönchtum 20,48ff.). Geist berührt sich mit ↑ "Seele", aber wenn beide auch vielfach miteinander vertauscht werden können, so bestehen doch andererseits Verschiedenheiten in der Anwendung, die sich nicht durchgängig auf ein einheitliches Prinzip zurückführen lassen. In der älteren Sprache sind sie noch häufiger vertauschbar als in der neueren. Ein Fall, in dem wir jetzt Seelevorziehen oder aber "Sinn", "Gemüt", "Herz" einsetzen würden, ist z. B. da es morgen ward / war sein Geist bekümmert (A180 Martin Luther, 1.Mose 41,8). Häufig noch in⊚ jmdm. (mit etwas) auf den Geist gehen ›jmds. Stimmung (durch etwas) beeinträchtigen‹. Der Geist wird aufgefaßt als etwas vom Leib Trennbares. Diese Trennung findet statt im Tod, daher
⊚ den Geist aufgeben schon mittelhochdeutsch, ⇓ "S036" durch die Bibel (Klagelieder 2,12) allgemein verbreiteter Ausdruck für ›sterben‹; vgl. auch so er jemand getödtet durch seine bosheit / so kan er den ausgefaren Geist nicht widerbringen (A180 Martin Luther, Weisheit Salomos 16,14); umgekehrt heißt es von der auferweckten Tochter des Jairus ihr Geist kam wieder. Wir nennen ferner jemanden geistesabwesend, wenn sein Geist so mit entfernten Dingen beschäftigt ist, daß er die dem Leibe zunächstliegenden nicht bemerkt. Wir schreiben demjenigen Geistesgegenwart (s. unten) zu, der sofort an das denkt, was die von außen herantretenden Umstände verlangen. Wir sagen er weilt im Geiste bei seinen fernen Freunden und dgl. Wenn der Geist vielfach als ein Hauch aufgefaßt wird, so beruht dies sowohl auf antiker Anschauung, die sich schon in der Benennung ausspricht (griech. pneúma, lat. spiritus ›Hauch, Atem‹, als auch auf der biblischen Schöpfungsgeschichte (A180 Martin Luther, 1.Mose 2,7); daher auch
⊚ den Geist aushauchen ›sterben‹; ↑ "sterben". – Schon in der mittelalterlichen Philosophie wird auch eine Mehrheit von Geistern im menschlichen Körper angenommen, die in den einzelnen Nerven ihren Sitz haben und in diesen das empfindende und bewegende Prinzip sind: die subtilen fewchtikait und pluet, so genennt sein spiritus vitales, und über sich geen zum leben (Berthold von Chiemsee; L059 DWb), (wobei spiritus vitalis auf Cicero zurückgeht, z. B. De natura deorum 2,117). Sie werden als Vermittler zwischen dem eigentlichen Geist und der leiblichen Natur des Menschen gefaßt verneuret herz, gehirn und mark, / insonderheit die spiritus, / darein unser seel wonen musz (Rollenhagen, Froschmeuseler). Diese Anschauung reicht bis in die neuere Zeit hinein, vgl. den Gehangenen, denen die Geister plötzlich umbzwenget und zugeknüpft werden (Opitz), wie nun in dem Gehirn der Geister Quell allein, aus welcher sie von da durch alle Nerven rinnen (Brockes), sonst wäre es besser meine Geister ruhen zu lassen (Goethe), noch sind Sie außer Fassung; sammeln Sie erst Ihre Geister (Schiller). Schiller verwendet diesen Plural in seiner früheren Zeit besonders häufig, was damit zusammenhängt, daß er in seiner Philosophie der Physiologie eine Theorie darüber aufgestellt hat, wobei er sich des schon früher gebrauchten Ausdrucks Nervengeister (daneben als Stoffbezeichnung der Singular Nervengeist) bedient. Noch jetzt ist Lebensgeister gebräuchlich. – Der Geist wird nach dem Tod als selbständig fortexistierend gedacht. Außer den Geistern der Verstorbenen kennt die mythische und religiöse Vorstellung eine Menge anderer Geister. In der Volksvorstellung pflegt daran noch immer etwas Materielles zu haften. Die Geister können dem Menschen sichtbar und durch ihre eigene Tätigkeit auch fühlbar werden, dagegen vermag der Mensch sie nicht zu greifen und zu betasten. Man spricht von guten, bösen, unreinen Geistern usw., unterscheidet Berggeist, Hausgeist, Wassergeister usw., dem Menschen wird ein Schutzgeist (lat. genius) beigesellt, der Mensch kann Geister in seinen Dienst bringen (dienstbarer Geist, häufig scherzhaft ›dienende Person‹; nach A180 Martin Luther, Hebräer 1,14), das Geisterreich wird der gewöhnlichen Welt gegenübergestellt. – Nach der christlichen Vorstellung sind außer Gott die Engel und Teufel Geister. Der Geist ist schlechthin auch der heilige Geist. Ein Geist wirkt nach biblischer Anschauung unmittelbar, ohne sichtbar zu werden, auf das Innere des Menschen, daher Wendungen wie der Geist kommt über ihn, der Geist des Herrn ist über mir, der Geist Elias ruhet auf Elisa. Ein Geist erscheint auch als Erzeuger des dem Menschen eigenen Wesens, vgl. Es sey denn / das jemand geboren werde / aus dem Wasser vnd Geist (A180 Martin Luther, Johannes 3,5), Wisset jr nicht / welches Geistes kinder jr seid? (A180 Martin Luther, Lukas 9,55); diese Wendung wurde im 18. Jahrhundert in
⊚ wes Geistes Kind er ist verändert. Man weist einem solchen Geist seinen Platz im Innern des Menschen selbst an. Biblisch ist die Vorstellung, daß der Wahnsinnige von einem bösen Geist besessen ist, der sich austreiben läßt. Entsprechend heißt es von dem Geist Gottes, dem heiligen Geist: der Geist des Herrn war in ihm, daß der Geist Gottes in euch wohnet, Elisabeth ward des heiligen Geistes vollund dgl. Ebenso wird eine besondere Begabung als Wirkung eines in das Innere eingedrungenen Geistes gefaßt: die ich mit dem Geist der Weisheit erfüllet habe, ein Weib, die einen Wahrsagergeist hat. Diese biblischen Vorstellungen wirken in der neueren Sprache nach und werden von dem religiösen Gebiet auf andere übertragen, wobei sich auch antik-heidnische Vorstellungen einmischen; daher "begeistern". – Erst in neuerer Zeit hat sich Geistunter dem Einfluß des franz. esprit (E.Wechßler, Esprit und Geist 1927) zur Bezeichnung eines Teils der seelischen Fähigkeiten entwickelt. Es tritt in Gegensatz zu "Gemüt" und "Herz". Es wird zum Ausdruck einer besonderen Begabung, der Gewandtheit, Leichtigkeit des Denkens, des Einfallsreichtums: ein Mann von Geist, geistlos, geistreich, geisttötend, geistvoll (s. unten). Hier schließt sich an
⊚ von allen guten Geistern verlassen sein ›unvernünftig sein‹. – Geistmit einer attributiven Bestimmung wird auch von der ganzen Person gebraucht, die einen solchen Geist hat: ein großer, kleiner, starker Geist, Feingeist, Schöpfergeist, "Freigeist", "Schwarmgeist", "Schöngeist" (nach franz. bel esprit). – Man schreibt auch einer Gruppe von Personen einen gemeinsamen Geist zu, worunter man das begreift, was in ihr an Vorstellungen und Gesinnungen vorherrscht: Geist einer Körperschaft, Mannschaftsgeist, Parteigeist, "Korpsgeist".Man spricht ferner von dem Geist eines Zeitalters, "Zeitgeist"; Geist in diesem Sinn wird durch adjektivische oder genitivische Bestimmungen oder durch Zusammensetzungen charakterisiert: in dem Heere herrscht ein guter (kameradschaftlicher) Geist, der nüchterne (philosophische) Geist des Jahrhunderts, ich werde sehen, ob der lyrische Geist mich anwandelt (Schiller); der Geist des Widerspruchs, der Forschungsgeist, Handelsgeist, Untertanengeist.Man gibt den konkreten Ausdrucksformen abstrakter Vorstellungen einen bestimmten Geist als Grundlage, biblisch ist der Gegensatz von "Buchstabe" und Geist (A180 Martin Luther, 2. Korinther 3,6), vgl. ferner Geist der Gesetze, der Verfassung, der Kunst, der Literatur eines Volkes. Hier schließen sich an der Geist der Freiheit, der olympische Geist usw. – Endlich wird Geist wie spätlat. spiritus, franz. esprit ›(flüchtige) Essenz‹ gebraucht, in dieser Bedeutung noch mit dem älteren Plural Geiste, vgl. manche Arten von Extrakten und Geisten(Goethe); noch üblich in Salmiakgeist, Weingeist. So bezeichnet es dann auch den Alkohol: Tropfen des Geistes (A222 Friedrich Schiller, Punschlied), trinkt! eh der Geist verraucht (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 23,92,8); Himbeergeist, Melissengeist usw. R.Hildebrand, Geist 1926.
Geisterbahn 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts (L337 WdG).
Geisterfahrer ⇓ "S138" ›wer auf der Autobahn auf der falschen Fahrbahn [mit Gegenverkehr] fährt‹ um 1975 (L175 Friedrich Kluge/ L175 Elmar Seebold).
Geisterhand A075 Johann Wolfgang von Goethe, Epimenides 699.
Geisterseher 1768 (Wieland; L059 DWb).
Geisterstunde ⇓ "S001" ›Stunde nach Mitternacht, in der die Geister erscheinen‹ (1787; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,6387.
Geistesabwesenheit L033 Joachim Heinrich Campe 1808, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von franz. absence d'esprit; danach später im 19. Jahrhundert geistesabwesend.
Geistesarbeit 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Sturz; L059 DWb); ↑ "Arbeit".
Geistesbildung L032 Joachim Heinrich Campe Erg. 1801 für Cultur; da es… an einer vielseitigern Geistesbildung fehle A075 Johann Wolfgang von Goethe, 34I,94,25.
Geistesblitz 1819 (Görres; L059 DWb).
Geistesfreiheit Ende des 18. Jahrhunderts: beherrschung der triebe durch die moralische kraft ist geistesfreiheit (Schiller; L059 DWb), heiter und mit Geistesfreiheit (›Gelassenheit‹) (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit 28,10,4.
Geistesgegenwart 1791 (Herder; L164 Friedrich Kluge), öfter bei Goethe (L092 GoeWb), zuvor (1754) Gegenwart des Geistes nach franz. présence d'esprit.
Geistesgeschichte 1808 (F.Schlegel; L059 DWb).
Geistesgestörtheit (L264 Daniel Sanders s. v. stören) und geistesgestört (L059 DWb) 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Geisteshaltung Mitte des 20. Jahrhunderts (L337 WdG).
geisteskrank und Geisteskrankheit L033 Joachim Heinrich Campe 1808.
Geistesschwäche (Klinger, Schiller; L059 DWb), danach geistesschwach.
Geistesstörung 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (L059 DWb).
Geistesverfassung um 1900 (L218 Muret/ Sanders).
geistesverwandt Ende des 18. Jahrhunderts (Schiller; L059 DWb), nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,51,22).
Geisteswissenschaft um 1880 Dubois-Reymond, 1883 maßgeblich ⇓ "S032" von W.Dilthey geprägt (vgl. L138 HWbPh).
Geisteszustand ›geistig-psychische Verfassung‹ (L092 GoeWb).
geisterhaft L033 Joachim Heinrich Campe 1808, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen (im Winter) (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,310,19).
geistlich ⇓ "S110" ahd. geistlih Lehnübersetzung von lat. spiritualis, im Sinn unseres geistig (s. unten), das erst später aufgekommen ist, vgl. Selig sind / die da geistlich arm sind (A180 Martin Luther, Matthäus 5,3), ein Gefühl geistlicher und leiblicher Gesundheit (Schiller). ⇓ "S036" Frühzeitig aber ist das Wort vorzugsweise in christlich-theologischem Sinn (nach spiritualis) verwendet, auf den heiligen Geist bezogen. So stehen als Gegensätze bei Luther der natürliche Mensch – der geistliche, ein natürlicher Leib – ein geistlicher Leib. Es wird dann Gegensatz zu "weltlich", was jetzt die einzige Gebrauchsweise ist: die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur Zeit der Not geistlich sein (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 23,65,23); geistlicher Stand 15. Jahrhundert; substantiviert der Geistliche, wozu Geistlichkeit 15. Jahrhundert.
geistlos mhd. geistelos ›leblos‹, im heutigen Sinn Ende des 17. Jahrhunderts (1685; L059 DWb).
geistreich
1 für lat. spiritualis in spätmittelhochdeutscher ⇓ "S142" Mystik bei Seuse (L164 Friedrich Kluge); in religiöser Tradition auch Luther: der geistreichen (›vom Hl. Geist erfüllten‹) prediger wenig sind (L059 DWb); im Sinne von geistlich bis ins 18. Jahrhundert, vgl. J.A.Freilinghausens geistreiches gesangbuch 1715 (L059 DWb);
2.1 ohne religiösen Bezug zunächst von Dichtern und Dichtung (geistreicher poet Luther; L059 DWb);
2.2 mit der Anlehnung von Geist an franz. esprit und génie erhält geistreich im 18. Jahrhundert die heutige Bedeutung: Ein geistreicher Mann, der vielen mit Witz verbundenen Scharfsinn besitzt(L004 Johann Christoph Adelung); was man in der schreibart… genialisch und geistreich nennt (Schiller; L059 DWb), Wortfeld ↑ "klug";
2.3 ironisierender Gebrauch wird zu Anfang des 19. Jahrhunderts häufiger: sehr viel geistreiches wischiwaschi, aber keine deutsche philosophie (Heine; L059 DWb); dies nehmen die Bildungen geistreicheln (1839 Immermann; L059 DWb) und
Geistreichelei ›Witzelei‹ (1872; L059 DWb) auf: unpassende Geistreicheleien, mit denen du gern groß tust (Musil; L337 WdG).
geistvoll (1741 Bodmer; L059 DWb), wohl unter Einfluß von franz. plein d'esprit, von geistreich kaum unterschieden.
geistern Mitte des 19. Jahrhunderts (1855; L059 DWb), auch älteres geisten (mhd. ) in der Bedeutung ›wie ein Geist herumgehen‹, ›spuken‹ erst 19. Jahrhundert (Auerbach; L059 DWb). ⇑ "begeistern", "entgeistern".
geistig mhd. geistec, zu Geist in allgemeiner Bedeutung als Gegensatz zu "leiblich". Daneben zu Geist ›Essenz, Alkohol‹: geistige Getränke, geistiger Wein »der viele flüchtige wirksame Theile hat« L003 Johann Christoph Adelung 1775. ↑ "vergeistigen".
⊚ den Geist aufgeben schon mittelhochdeutsch, ⇓ "S036" durch die Bibel (Klagelieder 2,12) allgemein verbreiteter Ausdruck für ›sterben‹; vgl. auch so er jemand getödtet durch seine bosheit / so kan er den ausgefaren Geist nicht widerbringen (A180 Martin Luther, Weisheit Salomos 16,14); umgekehrt heißt es von der auferweckten Tochter des Jairus ihr Geist kam wieder. Wir nennen ferner jemanden geistesabwesend, wenn sein Geist so mit entfernten Dingen beschäftigt ist, daß er die dem Leibe zunächstliegenden nicht bemerkt. Wir schreiben demjenigen Geistesgegenwart (s. unten) zu, der sofort an das denkt, was die von außen herantretenden Umstände verlangen. Wir sagen er weilt im Geiste bei seinen fernen Freunden und dgl. Wenn der Geist vielfach als ein Hauch aufgefaßt wird, so beruht dies sowohl auf antiker Anschauung, die sich schon in der Benennung ausspricht (griech. pneúma, lat. spiritus ›Hauch, Atem‹, als auch auf der biblischen Schöpfungsgeschichte (A180 Martin Luther, 1.Mose 2,7); daher auch
⊚ den Geist aushauchen ›sterben‹; ↑ "sterben". – Schon in der mittelalterlichen Philosophie wird auch eine Mehrheit von Geistern im menschlichen Körper angenommen, die in den einzelnen Nerven ihren Sitz haben und in diesen das empfindende und bewegende Prinzip sind: die subtilen fewchtikait und pluet, so genennt sein spiritus vitales, und über sich geen zum leben (Berthold von Chiemsee; L059 DWb), (wobei spiritus vitalis auf Cicero zurückgeht, z. B. De natura deorum 2,117). Sie werden als Vermittler zwischen dem eigentlichen Geist und der leiblichen Natur des Menschen gefaßt verneuret herz, gehirn und mark, / insonderheit die spiritus, / darein unser seel wonen musz (Rollenhagen, Froschmeuseler). Diese Anschauung reicht bis in die neuere Zeit hinein, vgl. den Gehangenen, denen die Geister plötzlich umbzwenget und zugeknüpft werden (Opitz), wie nun in dem Gehirn der Geister Quell allein, aus welcher sie von da durch alle Nerven rinnen (Brockes), sonst wäre es besser meine Geister ruhen zu lassen (Goethe), noch sind Sie außer Fassung; sammeln Sie erst Ihre Geister (Schiller). Schiller verwendet diesen Plural in seiner früheren Zeit besonders häufig, was damit zusammenhängt, daß er in seiner Philosophie der Physiologie eine Theorie darüber aufgestellt hat, wobei er sich des schon früher gebrauchten Ausdrucks Nervengeister (daneben als Stoffbezeichnung der Singular Nervengeist) bedient. Noch jetzt ist Lebensgeister gebräuchlich. – Der Geist wird nach dem Tod als selbständig fortexistierend gedacht. Außer den Geistern der Verstorbenen kennt die mythische und religiöse Vorstellung eine Menge anderer Geister. In der Volksvorstellung pflegt daran noch immer etwas Materielles zu haften. Die Geister können dem Menschen sichtbar und durch ihre eigene Tätigkeit auch fühlbar werden, dagegen vermag der Mensch sie nicht zu greifen und zu betasten. Man spricht von guten, bösen, unreinen Geistern usw., unterscheidet Berggeist, Hausgeist, Wassergeister usw., dem Menschen wird ein Schutzgeist (lat. genius) beigesellt, der Mensch kann Geister in seinen Dienst bringen (dienstbarer Geist, häufig scherzhaft ›dienende Person‹; nach A180 Martin Luther, Hebräer 1,14), das Geisterreich wird der gewöhnlichen Welt gegenübergestellt. – Nach der christlichen Vorstellung sind außer Gott die Engel und Teufel Geister. Der Geist ist schlechthin auch der heilige Geist. Ein Geist wirkt nach biblischer Anschauung unmittelbar, ohne sichtbar zu werden, auf das Innere des Menschen, daher Wendungen wie der Geist kommt über ihn, der Geist des Herrn ist über mir, der Geist Elias ruhet auf Elisa. Ein Geist erscheint auch als Erzeuger des dem Menschen eigenen Wesens, vgl. Es sey denn / das jemand geboren werde / aus dem Wasser vnd Geist (A180 Martin Luther, Johannes 3,5), Wisset jr nicht / welches Geistes kinder jr seid? (A180 Martin Luther, Lukas 9,55); diese Wendung wurde im 18. Jahrhundert in
⊚ wes Geistes Kind er ist verändert. Man weist einem solchen Geist seinen Platz im Innern des Menschen selbst an. Biblisch ist die Vorstellung, daß der Wahnsinnige von einem bösen Geist besessen ist, der sich austreiben läßt. Entsprechend heißt es von dem Geist Gottes, dem heiligen Geist: der Geist des Herrn war in ihm, daß der Geist Gottes in euch wohnet, Elisabeth ward des heiligen Geistes vollund dgl. Ebenso wird eine besondere Begabung als Wirkung eines in das Innere eingedrungenen Geistes gefaßt: die ich mit dem Geist der Weisheit erfüllet habe, ein Weib, die einen Wahrsagergeist hat. Diese biblischen Vorstellungen wirken in der neueren Sprache nach und werden von dem religiösen Gebiet auf andere übertragen, wobei sich auch antik-heidnische Vorstellungen einmischen; daher "begeistern". – Erst in neuerer Zeit hat sich Geistunter dem Einfluß des franz. esprit (E.Wechßler, Esprit und Geist 1927) zur Bezeichnung eines Teils der seelischen Fähigkeiten entwickelt. Es tritt in Gegensatz zu "Gemüt" und "Herz". Es wird zum Ausdruck einer besonderen Begabung, der Gewandtheit, Leichtigkeit des Denkens, des Einfallsreichtums: ein Mann von Geist, geistlos, geistreich, geisttötend, geistvoll (s. unten). Hier schließt sich an
⊚ von allen guten Geistern verlassen sein ›unvernünftig sein‹. – Geistmit einer attributiven Bestimmung wird auch von der ganzen Person gebraucht, die einen solchen Geist hat: ein großer, kleiner, starker Geist, Feingeist, Schöpfergeist, "Freigeist", "Schwarmgeist", "Schöngeist" (nach franz. bel esprit). – Man schreibt auch einer Gruppe von Personen einen gemeinsamen Geist zu, worunter man das begreift, was in ihr an Vorstellungen und Gesinnungen vorherrscht: Geist einer Körperschaft, Mannschaftsgeist, Parteigeist, "Korpsgeist".Man spricht ferner von dem Geist eines Zeitalters, "Zeitgeist"; Geist in diesem Sinn wird durch adjektivische oder genitivische Bestimmungen oder durch Zusammensetzungen charakterisiert: in dem Heere herrscht ein guter (kameradschaftlicher) Geist, der nüchterne (philosophische) Geist des Jahrhunderts, ich werde sehen, ob der lyrische Geist mich anwandelt (Schiller); der Geist des Widerspruchs, der Forschungsgeist, Handelsgeist, Untertanengeist.Man gibt den konkreten Ausdrucksformen abstrakter Vorstellungen einen bestimmten Geist als Grundlage, biblisch ist der Gegensatz von "Buchstabe" und Geist (A180 Martin Luther, 2. Korinther 3,6), vgl. ferner Geist der Gesetze, der Verfassung, der Kunst, der Literatur eines Volkes. Hier schließen sich an der Geist der Freiheit, der olympische Geist usw. – Endlich wird Geist wie spätlat. spiritus, franz. esprit ›(flüchtige) Essenz‹ gebraucht, in dieser Bedeutung noch mit dem älteren Plural Geiste, vgl. manche Arten von Extrakten und Geisten(Goethe); noch üblich in Salmiakgeist, Weingeist. So bezeichnet es dann auch den Alkohol: Tropfen des Geistes (A222 Friedrich Schiller, Punschlied), trinkt! eh der Geist verraucht (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 23,92,8); Himbeergeist, Melissengeist usw. R.Hildebrand, Geist 1926.
Geisterbahn 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts (L337 WdG).
Geisterfahrer ⇓ "S138" ›wer auf der Autobahn auf der falschen Fahrbahn [mit Gegenverkehr] fährt‹ um 1975 (L175 Friedrich Kluge/ L175 Elmar Seebold).
Geisterhand A075 Johann Wolfgang von Goethe, Epimenides 699.
Geisterseher 1768 (Wieland; L059 DWb).
Geisterstunde ⇓ "S001" ›Stunde nach Mitternacht, in der die Geister erscheinen‹ (1787; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt), A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,6387.
Geistesabwesenheit L033 Joachim Heinrich Campe 1808, ⇓ "S124" Lehnübersetzung von franz. absence d'esprit; danach später im 19. Jahrhundert geistesabwesend.
Geistesarbeit 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Sturz; L059 DWb); ↑ "Arbeit".
Geistesbildung L032 Joachim Heinrich Campe Erg. 1801 für Cultur; da es… an einer vielseitigern Geistesbildung fehle A075 Johann Wolfgang von Goethe, 34I,94,25.
Geistesblitz 1819 (Görres; L059 DWb).
Geistesfreiheit Ende des 18. Jahrhunderts: beherrschung der triebe durch die moralische kraft ist geistesfreiheit (Schiller; L059 DWb), heiter und mit Geistesfreiheit (›Gelassenheit‹) (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit 28,10,4.
Geistesgegenwart 1791 (Herder; L164 Friedrich Kluge), öfter bei Goethe (L092 GoeWb), zuvor (1754) Gegenwart des Geistes nach franz. présence d'esprit.
Geistesgeschichte 1808 (F.Schlegel; L059 DWb).
Geistesgestörtheit (L264 Daniel Sanders s. v. stören) und geistesgestört (L059 DWb) 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Geisteshaltung Mitte des 20. Jahrhunderts (L337 WdG).
geisteskrank und Geisteskrankheit L033 Joachim Heinrich Campe 1808.
Geistesschwäche (Klinger, Schiller; L059 DWb), danach geistesschwach.
Geistesstörung 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (L059 DWb).
Geistesverfassung um 1900 (L218 Muret/ Sanders).
geistesverwandt Ende des 18. Jahrhunderts (Schiller; L059 DWb), nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,51,22).
Geisteswissenschaft um 1880 Dubois-Reymond, 1883 maßgeblich ⇓ "S032" von W.Dilthey geprägt (vgl. L138 HWbPh).
Geisteszustand ›geistig-psychische Verfassung‹ (L092 GoeWb).
geisterhaft L033 Joachim Heinrich Campe 1808, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen (im Winter) (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,310,19).
geistlich ⇓ "S110" ahd. geistlih Lehnübersetzung von lat. spiritualis, im Sinn unseres geistig (s. unten), das erst später aufgekommen ist, vgl. Selig sind / die da geistlich arm sind (A180 Martin Luther, Matthäus 5,3), ein Gefühl geistlicher und leiblicher Gesundheit (Schiller). ⇓ "S036" Frühzeitig aber ist das Wort vorzugsweise in christlich-theologischem Sinn (nach spiritualis) verwendet, auf den heiligen Geist bezogen. So stehen als Gegensätze bei Luther der natürliche Mensch – der geistliche, ein natürlicher Leib – ein geistlicher Leib. Es wird dann Gegensatz zu "weltlich", was jetzt die einzige Gebrauchsweise ist: die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur Zeit der Not geistlich sein (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 23,65,23); geistlicher Stand 15. Jahrhundert; substantiviert der Geistliche, wozu Geistlichkeit 15. Jahrhundert.
geistlos mhd. geistelos ›leblos‹, im heutigen Sinn Ende des 17. Jahrhunderts (1685; L059 DWb).
geistreich
1 für lat. spiritualis in spätmittelhochdeutscher ⇓ "S142" Mystik bei Seuse (L164 Friedrich Kluge); in religiöser Tradition auch Luther: der geistreichen (›vom Hl. Geist erfüllten‹) prediger wenig sind (L059 DWb); im Sinne von geistlich bis ins 18. Jahrhundert, vgl. J.A.Freilinghausens geistreiches gesangbuch 1715 (L059 DWb);
2.1 ohne religiösen Bezug zunächst von Dichtern und Dichtung (geistreicher poet Luther; L059 DWb);
2.2 mit der Anlehnung von Geist an franz. esprit und génie erhält geistreich im 18. Jahrhundert die heutige Bedeutung: Ein geistreicher Mann, der vielen mit Witz verbundenen Scharfsinn besitzt(L004 Johann Christoph Adelung); was man in der schreibart… genialisch und geistreich nennt (Schiller; L059 DWb), Wortfeld ↑ "klug";
2.3 ironisierender Gebrauch wird zu Anfang des 19. Jahrhunderts häufiger: sehr viel geistreiches wischiwaschi, aber keine deutsche philosophie (Heine; L059 DWb); dies nehmen die Bildungen geistreicheln (1839 Immermann; L059 DWb) und
Geistreichelei ›Witzelei‹ (1872; L059 DWb) auf: unpassende Geistreicheleien, mit denen du gern groß tust (Musil; L337 WdG).
geistvoll (1741 Bodmer; L059 DWb), wohl unter Einfluß von franz. plein d'esprit, von geistreich kaum unterschieden.
geistern Mitte des 19. Jahrhunderts (1855; L059 DWb), auch älteres geisten (mhd. ) in der Bedeutung ›wie ein Geist herumgehen‹, ›spuken‹ erst 19. Jahrhundert (Auerbach; L059 DWb). ⇑ "begeistern", "entgeistern".
geistig mhd. geistec, zu Geist in allgemeiner Bedeutung als Gegensatz zu "leiblich". Daneben zu Geist ›Essenz, Alkohol‹: geistige Getränke, geistiger Wein »der viele flüchtige wirksame Theile hat« L003 Johann Christoph Adelung 1775. ↑ "vergeistigen".