Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
gehen
In den westgermanischen Sprachen (engl. go) sowie im Dänischen und Schwedischen vorhandenes Verb. Die einsilbigen Formen des Präsens gehn, gehst, geht erscheinen jetzt als Verkürzungen wie ziehnusw.; die Einsilbigkeit war aber das Ursprüngliche (ahd. / mhd. gen, gest, get), indem gehen mit "stehen", dessen Formen denen von gehensehr analog sind, und "tun" zu den Resten einer abweichenden Bildungsweise gehört (der griechischen Konjugation auf -mi entsprechend), die im Neuhochdeutschen nach Analogie der regelmäßigen Verben umgeformt sind, also Konjunktiv gehefür mhd. ge, 1. Singular Indikativ gehe für ge, noch älter gen. Ebenso ich stehe für ich ste(n) usw. Neben den Formen mit e bestanden im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen solche mit a: gan, gast, gat (entsprechend stan, stast, stat), die anfangs im Indikativ und Infinitiv das Übergewicht hatten; sie kommen noch im 16. Jahrhundert vor, vereinzelt bei Dichtern in altertümelndem Stil. Aus der Stammform ga- (ge-) (desgleichen aus sta-) scheinen ursprünglich nur Indikativ und Konjunktiv Präsens gebildet zu sein. Daneben bestand ein gemeingermanisches vollständiges Verb gangan (wie neben sta- ein stantan) in gleicher Bedeutung, mit dem sich litauisch zengiú ›ich schreite‹ vergleichen läßt. Allmählich haben die Formen aus ga- sich im ganzen Präsens festgesetzt und die aus gang- verdrängt (mittelhochdeutsch noch Imperativ gancund Konjunktiv gange neben ge); dagegen im Präteritum und Partizip haben sich die letzteren behauptet: ging< mhd. gienc, auch neuhochdeutsch noch gienggeschrieben (wie fing, hing), gegangen. – Die ursprüngliche Bedeutung ist ›sich zu Fuß, in aufrechter Haltung und Schritt für Schritt fortbewegen‹ (von Menschen und Tieren) Es ist der Spaziergang, der ewige Rundlauf des Gefangenen, den wir gehen. Wir gehen nicht langsam, sondern schnell, gespannt und weit ausgreifend (A170 Wolfgang Langhoff, Moorsoldaten 53); dazu besonders süddt. und österr. Gehsteig, Gehweg für ↑ "Bürgersteig". Gehen hat sich aber auch zu einer allgemeinen Bezeichnung für Bewegung jeder Art entwickelt. Dadurch berührt es sich mit "fahren", doch bezeichnet dieses häufig eine plötzliche, ruckweise, gehen dagegen eine gleichmäßige, wenn auch nicht immer langsame Bewegung. Neben der erweiterten Bedeutung erhält sich die engere als etwas Selbständiges; daher kann gehen den Gegensatz zu anderen Bewegungsarten ("fahren", "reiten" usw.) ausdrücken. Es wird auch wohl als das Langsamere dem Laufen gegenübergestellt, während andererseits umgangssprachlich ↑ "laufen" auch für gehen steht, teilweise auch ↑ "rennen" (vgl. L066 Jürgen Eichhoff, Karte 3–11). Von Personen wird es in der allgemeinen Bedeutung gebraucht in Wendungen wie nach Berlin gehen, aufs Land gehen, in Urlaub gehen, in die letzte Runde gehen, vor Gericht gehen usw. Die sächlichen Subjekte, mit denen es verbunden wird, können der allerverschiedensten Art sein, beispielsweise Bus, Geschäft, Herz, Maschine, Motor, Rad, Rauch, Schiff, Sonne, Tür, Uhr; »Wie geht denn dein Buch?« fragte Carola. »Geht riesig… « (A069 Robert Gernhardt, Glück 10). Auch Tätigkeitsbezeichnungen können Subjekt sein: Fahrt, Reise, Rennen, Spiel usw. Wie fast alle Wörter, die sich auf räumliche Verhältnisse beziehen, wird gehen auch auf das Zeitliche übertragen: man geht durchs Leben, einer besseren Zeit entgegen, in das dreißigste Jahr; das Jahr geht vorüber usw. Noch mehr erweitert sich die Funktion von geheninfolge unserer allgemeinen Gewohnheit, alle Beziehungen zwischen nichträumlichen Gegenständen untereinander oder zwischen nichträumlichen und räumlichen nach Analogie derjenigen zwischen räumlichen zu fassen und demgemäß zu bezeichnen: Worte gehen aus dem Mund, Gedanken gehen durch den Kopf, Erstaunen geht durch eine Versammlung usw. – Gewöhnlich wird gehen in Verbindung mit einer näheren Bestimmung gebraucht, am häufigsten mit einer Richtungsbezeichnung. Geh doch hinüber! Geh hinüber zu den Russen (A065 Franz Fühmann, Kapitulation 94).⊚⊚ in sich gehenreuevoll über sich selbst nachdenken‹ (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts Melber; L059 DWb); mit jmdm. gehen (mhd. ; L059 DWb) heute nur noch bezogen auf Liebespaare ›mit jmdm. befreundet, verbunden sein‹. Ein Akkusativ neben gehen ist entweder Akkusativ des Inhalts (einen Gang gehen, Schritt gehen, einige Schritte gehen), oder er bezeichnet das Gelände, über das man hingeht (den gleichen Weg gehen, daneben der Genitiv: seines Weges gehen, seiner Wege gehen), oder die Erstreckung (drei Kilometer, zwei Stunden gehen); endlich kann das Reflexivum mit prädikativem Adjektiv neben gehen stehen (er hat sich müde gegangen). Wo wir jetzt vielfach (allerdings nicht in der Umgangssprache) den Infinitiv mit zusetzen, stand früher der bloße Infinitiv; Reste davon sind betteln, schlafen, schwimmen, spazieren, spielen, stempeln, tanzen gehen; danach mit literarischer Kühnheit: es ging die frische Farbenglut verbleichen (Lenau). Wo gehen für sich steht, tritt der Verbalbegriff schärfer hervor. Außer dem Gegensatz zu anderen Fortbewegungsarten (s. oben) kann es dann den Gegensatz zur Ruhe bezeichnen, welche gewöhnlich durch "stehen" ausgedrückt wird (die Uhr geht oder steht); häufig formelhafte Verbindung der Gegensätze: wie ich ging und stand; wie geht's? wie steht's? – Wie stehen, "sitzen" u. a. bezeichnet gehen nicht bloß das Sichbefinden in einem Zustand, sondern auch das Geraten in denselben, nicht bloß in Zusammensetzungen wie ⇑ "abgehen", "ausgehen", "angehen", sondern auch sonst: auf die Reise gehen, der Zug geht um vier Uhr. Indem gehen sich auf den Moment bezieht, in dem man sich in Bewegung setzt, so kann darin auch das Verlassen des Ortes, an dem man sich bisher befunden hat, mit eingeschlossen sein. Es kann dann in Gegensatz zu "bleiben" treten (ich muß jetzt leider gehen). Noch häufiger ist der zu "kommen", das dann das Eintreffen an dem gleichen Ort bezeichnet (du bist eben gekommen, jetzt willst du schon wieder gehen). Für den Gebrauch von gehen und kommen ist meist der Standpunkt des Redenden maßgebend, namentlich für den Imperativ; so gebraucht man süddeutsch auch geh her wie komm her; (siehe ferner unten geh). Anderer Art ist die Gegenüberstellung von er geht nach und er kommt von, die auch als Zustandsbezeichnungen gebraucht werden können im Sinne von ›er ist auf dem Weg nach/ von‹. – Sehr mannigfach und schwer zu erschöpfen sind außerdem die übertragenen oder mit besonderem Nebensinn verknüpften Verwendungsweisen des Verbs an sich und der Verbindungen mit ihm. Man gebraucht gehen von Bewegungen, die nicht zu einer Ortsveränderung führen, sondern zu einer Veränderung in dem Umfang eines eingenommenen Raumes: Tuch geht ein bei der Wäsche; ein Mensch, ein Baum geht auseinander, in die Breite; Teig geht (infolge der Gärung). Es wird für die Erstreckung eines in Ruhe befindlichen Gegenstandes gebraucht, weil diese durch eine über denselben hingehende Bewegung (vielleicht nur des Blickes, der gedanklichen Einschätzung) wahrgenommen wird: ein Weg (eine Brücke usw.) geht nach, über, bis; ein Rock geht bis an die Knie, der Verlust geht in die Tausende usw.; übertragen seine Vollmacht geht weit; das geht zu weit; hierher wohl auch das geht über alles. Nur noch die Richtung wird angegeben, wenn wir sagen das Fenster geht auf die Straße; hier ist wohl anzuschließen, mit Übertragung auf das Gebiet des Unräumlichen, meine Meinung geht dahin u.dgl. Mit persönlichem Subjekt wird gehen oft von einer auf ein Ziel gerichteten Tätigkeit irgendwelcher Art gebraucht: an die Arbeit gehen, zu Rate gehen, er geht vorsichtig zu Werke, in die Schule, in die Politik gehen. Absolutes gehen in jmdn. gehen lassenjmdn. in seiner freien Bewegung nicht hemmen‹, auch sich gehen lassen: wenn die Leute sich hier in der Sprache gehen lassen, dann fallen sie unbedingt in eine lokale Dialektfärbung (A266 Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke 2,116). Häufig steht auch eine Tätigkeit, ein Geschehen als Subjekt: die Sache geht schief, die Arbeit geht ununterbrochen fort, es kann nicht so weiter gehen, vor sich gehen (mhd. ; L059 DWb), es ging alles im Hause nach des Vaters Kopfe (L305 Christoph Ernst Steinbach); als Frage nach dem Befinden
wie geht es dir? (mhd. ; L059 DWb); Wie gehts, sagte ein Blinder zu einem Lahmen. Wie Sie sehen, antwortete der Lahme (A178 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher E 385); Dabei wird es darum gehen, neben der politisch-moralischen Genugtuung auch materielle Ansprüche einzuräumen(1990 Denkschrift zum Einigungsvertrag X), gehen nach im Sinne von ›sich richten nach‹: es geht nach der Reihe, dies Wort geht nach der vierten Deklination. In manchen Wendungen bezeichnet gehennicht die wirkliche Ausführung einer Bewegung, sondern die Möglichkeit einer solchen: Geduldige Schafe gehen viele in einen Stall, in diesen Tank gehen 42 Liter, absolut das geht (nicht). Süddeutsch ist das geht mir gut im Sinne von ›steht mir gut‹: er[der Frack] wäre vielleicht meinem Onkel so gut gegangen wie meinem Vater (L.Pfau), ein wenig mehr Gehirne sollte nicht so übel gehn zu dieser schönen Stirne (Wieland). Fast zur Kopula verblaßt ist gehenin schwanger gehen, müßig gehen, desgleichen in entzwei gehen, in Stücke gehen, losgehen (↑ "los"), verlorengehen (↑ "verlieren") usw. mit dem Unterschied, daß es in jenen einen dauernden Zustand, in diesen den Eintritt eines Zustandes bezeichnet; letzteres ist bei ⇓ "S073" Funktionsverbgefügen mit gehen die Regel: in Arbeit, in Druck, in Revision, in Stellung gehen. H.Diersch, Verben der Fortbewegung in der deutschen Sprache der Gegenwart 1972. Dazu ↑ 1"Gang";
geh ursprünglich Imperativ Singular von gehen, ⇓ "S209" Sprechhandlungspartikel (18. Jahrhundert) ›Sprecher weist das Gesagte zurück‹, ›ach was!‹ (↑ "ach"), »eine im gemeinen Leben übliche Art seinen Unwillen, sein Mißfallen und seinen Zweifel auszudrücken« (L004 Johann Christoph Adelung), v. a. süddeutsch: nein, geh', es war hübsch von ihm (Goethe; L059 DWb); Geh, ich bitt dich, Edine, agacier mich nicht (A130 Hugo von Hofmannsthal, Schwierige 2,6); bis ins 19. Jahrhundert noch als Verbform empfunden, daher auch mit Sie oder im Plural: Gehen Sie doch! er hat mir ja nichts gethan (L004 Johann Christoph Adelung); Geht doch, geht mit eurem Geschwatz!(L033 Joachim Heinrich Campe), heute oft in der Verbindung: ach geh!
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