Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
ganz
ahd. / mhd. ganz, ursprünglich nur hochdeutsch, ›unverletzt, heil, gesund, vollkommender Graf lebt und ist ganz (A222 Friedrich Schiller, Fiesko 2,11), ferner abgeleitet in der Bedeutung ›gesamt, vollständig‹, mit welcher ganz z. T. älteres ↑ "all" zurückgedrängt hat; in dieser ist es nur in attributiver Stellung üblich, selten kommt es prädikativ vor (um unsre Freude ganz zu machen Wieland). Bemerkenswert, daß ganzin der Verbindung mit Ortsnamen ohne Artikel auch im Dativ flexionslos bleibt: Jch habe dich vber gantz Egyptenland gesetzt (A180 Martin Luther, 1.Mose 41,41), der Genitiv wird vermieden; ↑ "halb". Umgangssprachlich wird ganz zuweilen, besonders norddeutsch, wie alleneben einem Plural gebraucht, um die Gesamtheit zu bezeichnen, schon bei A180 Martin Luther ab jren gantzen Grentzen(Matthäus 2,16); korrekter bezeichnet ganz neben dem Plural die Vollständigkeit des einzelnen: von ganzem Herzen, mit ganzer Kraft (beide schon Luther); ganzjährig, ganztägig. Mit Zahlbestimmungen stand in älterer Sprache oft der Genitiv statt des erwarteten Akkusativs: wie er denn noch ganzer drei Monate da gewesen ist (Lessing). Neben einem als Prädikat gesetzten Substantiv drückt ganz aus, daß nicht mehr von einem Gegenstand vorhanden ist: das ist mein ganzes Vermögen (vgl. das sind alle meine Besitztümer); so auch er ist mein ganzer Stolz. Bei den bisher besprochenen Verwendungsweisen ist ganz, abgesehen von den Fällen, in denen ein Gegensatz hervorgehoben wird, an Tonstärke dem zugehörigen Substantiv gleich; es kann sich ihm aber auch unterordnen mit abgeblaßter Bedeutung: eine ganze Menge, was man umschreiben könnte ›so viel, daß es eine Menge ausmacht, daß man es eine Menge nennen kann‹; ebenso ganze Nächte hindurch, ganze Tonnen voll usw. (vgl. "förmlich" [↑ "Form"], ↑ "recht", ↑ "wahr", auch ⇑ "bloß", "rein"). Häufig substantiviert: das Ganze, ein Ganzes; im (großen und) ganzen hat adverbialen Charakter angenommen und dient zur Abschwächung. Das Adverb ganz hat sich aus dem Gebrauch des Adjektivs als prädikatives Attribut entwickelt. Als ein solches werden wir das Wort noch aufzufassen haben in das Brot ist ganz verzehrt; auch der Boden ist ganz rein könnte noch verstanden werden als ›der Boden ist in seiner vollständigen Ausdehnung rein‹, nach dem Sprachgefühl aber ›der Boden hat die Eigenschaft der vollkommenen Reinheit‹; bei er ist ganz schweigsam oder er schweigt ganz ist keine Unsicherheit mehr möglich; ganz Ohr sein (um 1750; L059 DWb) ›aufmerksam zuhören‹. Ungewöhnlich ist ganz neben dem Superlativ, wie es A075 Johann Wolfgang von Goethe einige Male gebraucht (z. B. die ganz natürlichsten Gerichte1,199,7 für die allernatürlichsten). Im 15.-18. Jahrhundert (L059 DWb) auch zur Verstärkung: er nimmt an diesen Streitigkeiten ganz keinen Anteil (Lessing), heute ↑ "gar", auch in den häufigen Verbindungen ⇓ "S007" ganz und gar (mhd. ; L059 DWb) und voll und ganz (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts; L320 Trübner). Sehr oft wird ganz neben Adjektiven und Adverbien in abgeblaßter Bedeutung als allgemeine Verstärkung (›sehr‹) gebraucht – der Vater [ist] ganz jung, vollkommen gesund, ohne jede Krankheit, ganz plötzlich wie vom Blitz getroffen gestorben (A034 Elias Canetti, Zunge 84), auch in der Doppelung ganz ganz toll -, die wie andere Verstärkungen auch die Geltung einer Abschwächung erlangen kann, so daß ganz gut weniger ist als gut, auch z. B.: Aus was für'n Zoo bist du denn ausgebrochen? Du bist ja ganz was Hübsches (B.Strauß, Der Park, 1983,40). Die Verwendung entspricht der oben erwähnten des Adjektivs mit Unterordnung in der Betonung. Umgangssprachlich ist adjektivische Flexion des adverbialen ganzvor flektiertem Adjektiv: ein ganzer guter Mann, eine ganze gute Frau (siehe "recht"). ⇓ "S126" Die Substantivierung das Ganze liebt Goethe, vgl. G.Horatschek, »Und alles zweckend zum Ganzen« – der Ganzheitsbegriff beim Jungen Goethe (1991).
Gänze ahd. genzi, mhd. genzeVollständigkeit‹;
Ganzheit (mhd. ) ›Vollständigkeit, Geschlossenheit‹, ⇓ "S126" öfter bei Goethe (vgl. L092 GoeWb);
ganzheitlich"S180"etwas vollständig und geschlossen erfassend‹, (1924 F.Krueger, in: Berichte des VIII. Kongresses für experimentelle Psychologie 33);
gänzlich mhd. genzlich, ursprünglich ganz überwiegend als Adverb gebraucht, darin allmählich beschränkt durch ganz; daher wird es auch als Adjektiv nur neben Tätigkeits- und Eigenschaftsbezeichnungen verwendet: gänzliche Befreiung.
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