Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
fallen
ahd. fallan, gemeingermanisches starkes Verb (urverwandt lett. pult ›fallen‹, armen. pul ›Einsturz‹); bezeichnet ursprünglich eine Bewegung nach unten, welche durch die natürliche Schwere hervorgerufen, daher auch, wenn sie lebende Wesen betrifft, unwillkürlich ist; im Gegensatz zu "sinken" besonders für eine schnelle, plötzliche Bewegung. Auseinanderzuhalten sind zunächst folgende Verwendungsweisen:1 Im allgemeinen drückt fallen aus, daß ein Gegenstand als Ganzes sich von oben nach unten bewegt: Regen fällt; ein Apfel fällt vom Baum; wenn die Blätter fallen in des Jahres Kreise (Schiller; L264 Daniel Sanders).
2 Von einem Gegenstand, wenn nur ein Teil von ihm nach unten gezogen wird und daraus eine Verschiebung der übrigen Teile erfolgt ("umfallen"); ein Mensch fällt, wenn er vom Stehen oder Sitzen zum Liegen kommt, auch wenn er dabei keinen niedrigeren Punkt erreicht, als er schon vorher berührt hat: wer sich lesset düncken / Er stehe / Mag wol zusehen / das er nicht falle (A180 Martin Luther, 1.Korinther 10,12); entsprechend kann ein Baum, ein Wagen usw. fallen.
3 Wenn durch Quantitätsverminderung oder Zusammenziehung das Niveau, bis zu dem sich etwas erhebt, niedriger wird: das Wasser, das Thermometer usw. fällt. Den Übergang von (1) zu (3) bildet fallenvon der Waagschale gebraucht. Es unterscheidet sich hier beinahe gar nicht mehr von "sinken" und weist überall auf "steigen" als Gegensatz hin.
4 Bei jeder dieser drei Gebrauchsweisen kann Spezialisierung und Übertragung eintreten: (1)
Die Würfel fallen, danach die Entscheidung, ein Urteil fällt. Nahe berührt sich damit das Los fällt auf ihn (aufin übertragener Bedeutung). Früher auch von Zinsen: ob die Zinsen in diesem Leben oder im andern fallen (Schiller), daher fällig (s. unten). Auch Worte fallen, man läßt ein Wort fallen: er hatte von seinen Anschlägen manches gegen den Sultan fallen lassen (Wieland), so wie man aus Achtung schweigt, nachdem ein großes Wort gefallen ist (Musil; L337 WdG). Ganz anders fallen lassenaufgeben, an etwas nicht mehr festhalten‹; ein Antrag fälltwird abgelehnt‹, auf die Erde fallen veraltet ›vergeblich bleiben‹ (öfters im 18. Jahrhundert), heute umgangssprachlich
⊚⊚ flach fallenausfallen‹, in die Waagschale / ins Gewicht fallenvon Einfluß auf eine Entscheidung sein‹: ein Blatt Papier fällt schwerer in die Waage (Schiller); (2) im Sinne von ›untergehen‹: eine Burg, eine Festung fällt, wenn ihre Mauern so weit zerstört sind, daß sie erstürmt wird oder sich ergeben muß; fallende Sucht (Krankheit, bei der man fällt) veraltet für ›Epilepsie‹; häufig soviel wie ›tot niederfallen, sterben‹: Sterben soll sie! / Er soll sie fallen sehn und nach ihr fallen (A222 Friedrich Schiller, Stuart 4,5), auch von Menschen im Krieg: Vnd alle die des tages fielen beide Man vnd Weiber / der waren zwelff tausent (A180 Martin Luther, Josua 8,25) und von Vieh, das geschlachtet wird oder einer Krankheit erliegt, ↑ "sterben"; übertragen zum Opfer fallen; veraltet ein Handelshaus fälltmacht Bankerott‹. Jemand, der eine Stellung nicht mehr behaupten kann, fällt, wer seine Unschuld verliert: gefallener Engel, gefallenes Mädchen;
⊚⊚ mit der Tür ins Haus fallenetwas plump und ohne Vorbereitung anbringen‹: ein freiersmann sollte nicht mit der thüre ins haus fallen (Goethe; L059 DWb), er ist nicht auf den Kopf gefallengescheit‹; (3) wie "steigen" auf die Tonhöhe übertragen, auf Wertverhältnisse: der Preis fällt, die Wertpapiere fallen, das Ansehen eines Mannes fällt; (4) für eine Bewegung, die nicht direkt nach unten geht, bei der nur mit dem Vorwärtsrücken eine Neigung abwärts verbunden ist: der Fluß fällt einen Meter auf die Meile (daher "Gefälle"); (5) weiter übertragen auf Fälle, bei denen gar keine Bewegung mehr stattfindet, zur Bezeichnung einer Richtung abwärts: ein Weg, eine Eisenbahn fällt; (6) mit 2 verbindet sich die ursprünglich von der Bedeutung ausgeschlossene Vorstellung einer absichtlichen Handlung: jmdm. zu Füßen fallensich werfen‹; früher auch vom Pferd fallenabsteigen‹, bei Luther da fiel sie vom Kamel, sie fiel vom Esel; in der Schiffersprache ins Boot fallen; (7) unter Verblassen der Vorstellung einer Richtung nach unten bezeichnet fallenüberhaupt eine absichtliche, schnelle Bewegung:
⊚⊚ jmdm. um den Hals fallen, dem Pferd in die Zügel fallen, dem Rad in die Speichen fallen; übertragen er fällt der Gerechtigkeit in den Arm, jmdm. ins Wort fallen; der Sänger rasch in die Saiten fällt (Schiller); bis endlich der Doctor in folgenden Gesang fällt (Goethe); fallt in ihre Herde (Schiller), als er in dieses Mannes Schloß fiel (Schikaneder); über jmdn. herfallen, jmdm. in den Rücken fallen ⇑ "anfallen", "ausfallen", "überfallen"; "einfallen" (↑ "Einfall"), "abfallen" (↑ "Abfall"); (8) unter Verblassen der Richtungsvorstellung und ohne die Vorstellung einer freiwilligen Handlung bleibt als Bedeutung nur übrig ›zufällig auf etwas geraten‹: Das Licht fällt durch die Fenster, in das Zimmer; sein Blick fiel auf mich; der Verdacht, die Wahl fiel auf ihn; Schlaf, Schrecken fiel über sie(hierbei könnte man noch von der ursprünglichen Bedeutung 1 ausgehen); vgl. weiter Daß der Zeichner gerade auf diese Gestalt und Einteilung gefallen wäre (Lessing); das Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Werther 19,30,11); seitdem die großen Herren auf das Inkognito gefallen sind (Goethe) (dafür jetzt "verfallen"). Daß sie [die Folgen] ebenso oft glücklich als unglücklich fallen (Lessing); unser Gespräch würde ganz anders gefallen [›verlaufen‹] sein (Lessing), jmdm. in die Hände, in die Augen fallen; ⇓ "S073" fallen ingeraten in einen Zustand‹: bei in Ohnmacht fallen liegt noch die Vorstellung eines Fallens nach 2 zugrunde; kaum noch bei in Anfechtung, in Wahnsinn fallen (verfallen). Das Land, das euch zum Erbteil fällt (Luther); vgl. zufallen; hier könnte die Vorstellung des Würfelns oder Losens zugrunde liegen. Eine Erbschaft fällt an jmdn. , vgl. "anfallen". Etwas fällt unter eine Klasse, einen Begriff. Unmittelbar aus der ursprünglichen Bedeutung entsprungen ist vielleicht jmdm. zur Last fallen.Desgleichen wohl schwer fallen, beschwerlich fallen; ungewöhnlicher dem alten Manne fällt es doch hart (Schiller). Doch wurden früher auch andere Adverbien (bzw. Adjektive) so mit fallen verbunden: damit ihre Wirksamkeit ihm nicht hinderlich fiele (J.E.Schlegel), dein Abschied würde mir schmerzlich fallen (Rabener), das Anwehen eines rauhen Lüftchens fällt der zarten Wange empfindlicher (Wieland), Vergleichungen und Aufsätze würden hier zu weitläufig fallen (Herder); zu kurz fallen, vielleicht vom Losen hergenommen: gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz fällt (›nicht ausreicht‹) (Lessing); Ostern fällt auf den 2. April; man muß die Feste feiern wie sie fallen; veraltet dieses Blau fällt ins Grüne.
Fall ahd. / mhd. val, zu fallen(1) und (2), zu fallen(3) substantivierter Infinitiv. Den übrigen Verwendungsweisen entsprechend kann das einfache Wort nicht gebraucht werden, vgl. aber die Zusammensetzungen Fußfall, "Kniefall", "Abfall", "Anfall" (↑ "anfallen"), "Ausfall" (↑ "ausfallen"), "Überfall" (↑ "überfallen"), "Beifall", "Rückfall" (↑ "Rücken"), "Vorfall" (↑ "vorfallen") u. a.; zur Bezeichnung für den Gegenstand, an dem das Fallen sich vollzieht, in Wasserfall; von der engeren Beziehung zum Verb losgelöst ist Fall im grammatischen Sinn in seiner Lehnbedeutung nach lat. casus, namentlich aber in seiner wichtigsten Funktion, die anknüpft an den Fall der Würfel (vgl. lat. casus, franz. cas und chance), daher zunächst ›die Art, wie die Würfel fallen‹, dann verallgemeinert und abgeblaßt ›die Art, wie sich Verhältnisse gestalten‹. Nur für diese Funktion und für die Bedeutung ›Wasserfall‹ kann ein Plural gebildet werden; häufig bezogen auf die akustische Wahrnehmung der Fall eines schweren Körpers(L004 Johann Christoph Adelung), physikalisch freier Fall (↑ "frei"), übertragen
⊚⊚ Knall und Fallplötzlich‹: daß Ihr so Knall und Fall / Euch aus dem Staube machtet (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan 3,10); im Sinne von ›NiedergangHochmut kommt vor dem Fall nach (A180 Martin Luther, Sprüche Salomos 16,18), diese Funktion neuhochdeutsch; hauptsächlich ⇓ "S010" kanzleisprachlich unter Einfluß von lat. casusund franz. cas im Sinne von ›Angelegenheitgesetzt den Fall, bei L308 Kaspar Stieler den Fall gesetzt; hierher auch das ist mein Falldas paßt mir‹, häufig negiert (vgl. L059 DWb); häufig im 18. Jahrhundert im Sinne von ›in der Lagewie dessen Talent man hier ganz zu überschauen im Fall ist (Goethe), je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall war (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,329,1); ⇓ "S181" rechtssprachlich ›Gegenstand der Auseinandersetzung‹, in diesem Sinn erläutert L308 Kaspar Stieler den Kaiserlichen Befehl auf die vier Fälle, häufig mit Personennamen der Fall Gottfried Benn, Der Fall Maurizius Titel des Romans von J.Wassermann; medizinisch ›Krankheit‹, Krankheitsfall (L320 Trübner): Behandelnder Arzt, Stationsarzt und Oberarzt debattieren über den Fall (R.A078 Rainald Goetz, Irre 73); ⇓ "S208" in der Grammatik seit 1619 im Sinne von ›Deklinationsform‹, indes »man hat sich endlich überzeugt, dasz… notwendig ist, die lateinische terminologie… zu behalten« (L059 DWb); die Abstraktheit der Bedeutung macht Fall besonders geeignet zur Bildung adverbialer Wendungen: in diesem/ jedem/ keinem Fall; im Falle bei Goethe auch ›in diesem Fall‹ oder ›vorkommenden Falls‹; wie eine Konjunktion gebraucht im Fall (daß): im Fall es völlig wieder losgeht (Lessing), zum Ausdruck vorausschauenden Handelns auf/ für alle Fälle (L059 DWb): es ist auf alle fälle (Schiller; L059 DWb), in der direkten Rede auch im Sinne von ›bestimmt‹;
falls (L308 Kaspar Stieler) zur Konjunktion ›wenn‹ entwickelt: erwache, schöne schläferin, / falls dieser kus nicht zu bestrafen(Hagedorn; L059 DWb); in verschiedenen Verbindungen, veraltet desfalls, diesfalls (beide 16. Jahrhundert; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) ›in dieser Hinsicht‹: nichts kann mich desfalls beruhigen (Lessing); vorkommendenfalls, günstigenfalls, widrigenfalls, andernfalls (L308 Kaspar Stieler); es fällt dabei die schwache Form des Adjektivs auf, doch vgl. großenteils usw.; es heißt aber auch "allenfalls" (L308 Kaspar Stieler), "jedenfalls", während doch aus all und jeder keine schwachen Formen gebildet werden; es haben daher neben dem allgemeinen Vordringen der schwachen Adjektiv-Flexion hier wohl auch die Wendungen auf allen/ jeden Fall eingewirkt; in "ebenfalls", gleichfalls (beide 16. Jahrhundert; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) erscheint das erste Glied unflektiert, es könnte aber eben- aus ebenen entstanden und dann gleichfalls nach ebenfalls gebildet sein.
Fallbeil (17. Jahrhundert) für die Maschine zur Hinrichtung, später neben ↑ "Guillotine".
Fallreep"S196" seemannssprachlich, aus niederdt. Valreep (niederdt. ReepTau‹, ↑ 1"Reif"), ursprünglich ›Tau zum Herabfallen, Herabgleiten vom Schiff‹, dann ›Seitentau der Schiffstreppe‹ (Vogel 1903), schließlich auf jede Strickleiter oder Schiffstreppe übertragen, die sich außenbords befindet.
Fallschirm 1795 Jean Paul, 1801 bei L033 Joachim Heinrich Campe für franz. parachute. Fallschirmjäger 1939 für franz. engl. parachutist(e).
Fallstrickursprünglich ›Strick, der über etwas fällt‹, daher ›Schlinge oder Netz zum Fangen von Tieren‹, übertragen seit ⇓ "S036" A180 Martin Luther, Lukas 21,35 wie ein Fallstrick wird er [der jüngste Tag] kommen über alle.
Falle ahd. falla, mhd. valle; Mausefalle (L308 Kaspar Stieler), einem eine Falle stellen (ebenda), Sie richten fallen zu, ja gruben graben sie (Weckherlin; L059 DWb), danach umgangssprachlich (ursprünglich wohl ⇓ "S211" studentensprachlich) ›Bett‹: er liegt schon in der Falle (vgl. L115 Helmut Henne/ L115 Georg Objartel 5,255); frühneuhochdeutsch und mundartlich ›Türklinke‹ (↑ "Klinke").
fällen ahd. fellan, ⇓ "S107" Bewirkungswort zu fallen(2), sonst "werfen", "stürzen"; einen Baum fällen, nur in bestimmten technischen Ausdrücken anders gebraucht: mit gefälltem [›gesenktem‹] Bajonett; in der Chemie ›zwei miteinander verbundene Stoffe trennen‹ »welches auch niederschlagen genannt wird« (L004 Johann Christoph Adelung); übertragen in der Wendung ein Urteil fällen (L308 Kaspar Stieler) ›urteilen‹ (zu fallen[1]);
fällig ahd. fellic, mhd. vellec; zu fallen(1), in allgemeinerem Sinne noch in Zusammensetzungen: augenfällig, baufällig, fußfällig, "rückfällig", "straffällig"; übertragen zur Bezeichnung einer (verstreichenden) Frist: Das Geld ist noch nicht fällig, fällige Zinsen (L004 Johann Christoph Adelung).
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