Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
fahren
ahd. faran, mhd. varn, germanisch (engl. fare), urverwandt griech. pórosDurchgang, Übergang‹, lat. portaretragen‹.  1 Ursprünglich der allgemeinste Ausdruck für jede Bewegung, die einen Ortswechsel bewirkt, es schließt die spezielleren "gehen", "reiten", "fliegen", "schwimmen", (im Wagen) fahren ein, noch bei Schiller im Anschluß an schweizerischen Gebrauch wir fahren zu Berg; so erhalten in: fahrendes Volk (›herumziehende Leute‹, mhd. varnde diet), fahrender Schüler (mhd. ); fahrende Habe und fahrendes Gut (mittelhochdeutsch), ⇓ "S181" Rechtsausdrücke für das bewegliche Vermögen (so auch Fahrnis [15. Jahrhundert; Luther], noch südwestdeutsch / schweizerisch ›MobiliarFahrnisversteigerung) im Gegensatz zu liegende Habe, "Liegenschaft" (↑ "liegen"), vgl. L046 DRWb3,369ff.; in fahre wohl (Lehnübersetzung von engl. farewell, noch bei L264 Daniel Sanders »häufiger Abschiedsgruß« wie "Lebewohl"; in fahrenlassenaufgebenFreundschaft/ Sorgen fahrenlassen (vgl. L200 Josua Maaler); fahren ist auch noch die allgemeine Bezeichnung für alle solche Bewegungen, für die keine spezielle existiert, so besonders im religiösen Bereich: Christus ist gen Himmel gefahren; zur Hölle fahren; in die Grube fahren und zu den Vätern fahrensterben‹ (Luther); ebenso ist die allgemeine Bedeutung erhalten im Grundwort der Zusammensetzungen ⇑ "erfahren", "verfahren", "fortfahren" (↑ "fort"), "wallfahren" (↑ 2"wallen"), "zerfahren", ⇑ "Gefahr", "Nachfahr", "Vorfahr" und in Ableitungen (s.unten); sie ist bezüglich des Momentes der Bewegung verblaßt in Wendungen und Ausdrücken wie: klüglich fahren (Luther), wohl oder übel bey oder mit einer Sache fahren »in der vertraulichen Sprache des Umgangs« (L004 Johann Christoph Adelung), dazu "Wohlfahrt" (↑ "wohl", mit etwas gut/ schlecht fahren, "hochfahrend" »stolz, gebieterisch« (L033 Joachim Heinrich Campe), "Hoffart" (mhd. hochvart), "hoffärtig". Trat bei entsprechender Verblassung die Aktivität des Subjekts hervor, so näherte sich fahrendem jetzigen "verfahren" (vgl. auch "fortfahren"): fahren wir schön mit den Leuten(Luther); fahren Sie säuberlich mit der Pilgerin(Schiller); daher "hochfahrend". ⇓ "S029" Die neuere Sprache muß sich in bezug auf die Fortbewegung von Menschen oder Tieren in der Regel der spezielleren Ausdrücke bedienen, da fahren
2 beschränkt ist auf die Bewegung in einem Gefährt, gewöhnlich zu Lande oder zu Wasser (mit Flugzeug nur "fliegen", aber z. B. mit Ballon weiterhin auch fahren): Also… fuhr [er] vber das wasser (A180 Martin Luther, 1.Mose 31,21), ↑ "überfahren"; auf einem Wagen fahren (L200 Josua Maaler), mit dem Schiff fahren (L308 Kaspar Stieler), ⇓ "S196" seemannssprachlich
zur See fahren nach niederländ. te scheep vaaren (1681) seit dem 18. Jahrhundert (L162 Friedrich Kluge, Seemannssprache), daher Fahrensmann »Schiffmann, Bootsknecht« (18. Jahrhundert; ebenda), ins heu fahren (L059 DWb), Fahrrad fahren, der Bus fährt über Land, auch Schlittschuh fahren (L004 Johann Christoph Adelung) neben laufen; transitiv ›etwas / jmdn. fortbewegen‹, ›transportieren‹: Holz fahren (↑ "Fuhre"); dazu festfahren, reflexiv und übertragen besonders im Perfekt von der Rede: Er hatte sich festgefahren und seine Bemühungen, wieder loszukommen waren vergebens (Goethe; L264 Daniel Sanders); dagegen im Sinne von ›führen‹ und anstelle des älteren "führen", wenn das Bewegte oder sein Lenker das Subjekt bildet: einen Wagen, ein Schiff fahren. Dazu abwertend Fahrerei (L059 DWb) und Gefahre (L264 Daniel Sanders).
3 Gebraucht (im Anschluß an die alte Bedeutung) von mehr oder weniger plötzlichen bzw. schnellen Bewegungen ohne das Moment der Fortbewegung: (vor Empörung) in die Höhe fahrenaufspringen, (der Schreck) ist mir durch alle Glieder gefahren (L004 Johann Christoph Adelung); mit der Hand durch die Luft / über die Stirn fahren, Er fuhr mit beiden Händen über die graue Haut seines Körpers (A154 Hermann Kasack, Stadt 315);
⊚⊚ aus der Haut fahren (Luther; L320 Trübner) ›empört sein‹, einem über das Maul fahren (L004 Johann Christoph Adelung) ›jmdn. beim Reden grob unterbrechen‹ (↑ "anfahren"); übertragen auf leblose Dinge der Blitz fuhr in den Baum und Geistiges ein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf; ↑ "auffahren" .
4"S220" Technisch ⇓ "S147" neu ›in Betrieb sein/ habendie Maschine fährt auf Hochtouren, übertragen z. B. eine Schicht fahren »ableisten« (L337 WdG), im Rundfunk- und Fernsehwesen ›senden, spieleneine Aufnahme original fahren (ebenda), ↑ "abfahren".
hochfahren"S220""S043" technisch übertragen ›(in der Leistung) steigern, erhöhen‹, ›startenden Reaktor / den Computer hochfahren(engl. run up); an die ältere konkrete Bedeutung schließt an ↑ "hochfahrend"; Gegensatz
herunterfahren"S220""S043" umgangssprachlich runterfahren, ›(in der Leistung) senken‹, ›beenden, abstellenden Reaktor / den Computer herunterfahren(engl. run down).
Fahrbahn zunächst bezogen auf die Flußschiffahrt »derjenige Strich, wo Kähne und Schiffe am besten fahren konnen« (L144 Johann Karl Gottfried Jacobsson 1781), dann auch auf das Land im Sinne von ›Straße‹ (L059 DWb).
fahrbar (L033 Joachim Heinrich Campe) ›was befahren werden kann‹, heute veraltet und nur noch in der Bedeutung ›was gefahren werden kann‹, besonders umgangssprachlich fahrbarer Untersatz 1935 aus der ⇓ "S202" Soldatensprache (vgl. Jung, L217 MuSpra 1966,114ff.).
Fahrerlaubnis (Neuprägung ⇓ "S045" DDR; L337 WdG), sonst "Führerschein" (↑ "führen").
Fahrgast 1856 in Hackländers Hausblättern 2.Jg. (vgl. L264 Daniel Sanders), nach seemannssprachlich ↑ "Gast" für nichtseemännische Besatzungsangehörige; 1886 L273 Otto Sarrazin als ⇓ "S123" Ersatzwort für "Passagier", dazu Fahrgastschiff (Neuprägung; L337 WdG).
Fahrgeschwindigkeit"S138" Höchstzulässige Fahrgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortsteile 30 km/ Std. (Kfz-Verkehrsordnung vom 15.3.1923).
Fahrkarte"S138""S071" L273 Otto Sarrazin 1886 als ⇓ "S123" Lehnschöpfung für "Billett" (mit Rückfahrkarte), übertragen ›Fehlschuß‹ um 1900 (vgl. L177 Heinz Küpper), in der Wendung eine Fahrkarte schießen (›vorbeischießen‹; von der Vorstellung der Entwertung?);
fahrlässig (15. Jahrhundert; ursprünglich ⇓ "S214" südwestdeutscher ⇓ "S181" Rechtsausdruck; vgl. L046 DRWb3,381), zunächst »faul / trag« (L200 Josua Maaler), ›nachlässig‹ (vgl. L308 Kaspar Stieler); im juristischen Sinn handelt fahrlässig, »wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt« (§276 BGB), dazu Fahrlässigkeit (15. Jahrhundert) »Mangel der Aufmerksamkeit in seinen Geschäften« (L004 Johann Christoph Adelung).
Fahrplan (L059 DWb) übertragen ›Absicht, Vorhaben‹: er will seinen Fahrplan nicht ändern (L337 WdG).
Fahrrad"S138" 1886 ⇓ "S071" L273 Otto Sarrazin als ⇓ "S123" Lehnschöpfung für Veloziped (1862), woraus ⇓ "S195" schweizerisch Velo; als Kurzwort ↑ "Rad" (L218 Muret/ Sanders).
Fahrschule (L056 Duden 111934) ›Schule zum Erwerb des Führerscheins‹.
Fahrstuhl"S138" (17. Jahrhundert), »ein Stuhl, auf welchem man aus einer Etage in die andere durch die geöffnete Decke fahren kann« (L004 Johann Christoph Adelung), auch Fahrsessel, um 1880 übertragen auf den elektrischen ↑ "Lift" (dazu synonym ↑ "Aufzug").
Fahrwasserfür ein Schiff genügend tiefes Wasser, Fahrrinne‹ bei L004 Johann Christoph Adelung nur in konkreter Bedeutung, dann häufig bildlich und übertragen in gutem Fahrwasser sein, in jmds. Fahrwasser segeln u.dgl.
Fahrzeug"S196" (1668; L162 Friedrich Kluge, Seemannssprache) < niederdt. fartüg, niederländ. vaartuig ›Schiff‹,
1 bis L004 Johann Christoph Adelung im Anschluß an fahren(2) ›jedes Gerät (↑ "Zeug") zum Fahren auf dem Wasser‹ im Gegensatz zu "Fuhrwerk" (zur Fortbewegung auf dem Land);
2 dann, bei L264 Daniel Sanders noch seltener, die heutige Bedeutung »ein Geräth… auf dem Lande zu fahren«, jetzt gewöhnlich im Sinne von "Kraftfahrzeug", "Auto", während "Fuhrwerk" im alten Sinne als ›Pferdefuhrwerk‹ verstanden wird.
Fahrer allgemein 17. Jahrhundert (L308 Kaspar Stieler), zuvor seit dem 12./ 13., besonders dem 16. Jahrhundert, »in zahllosen Zusammensetzungen, die Schiffe, Schiffsführer und Schiffspassagiere bezeichnen« (L162 Friedrich Kluge, Seemannssprache); um 1900 verdeutlicht Kraft(wagen)fahrer; Gab die Polizeivorschrift / hier dem Fahrer freie Trift? (Ch.A190 Christian Morgenstern, Die unmögliche Tatsache).
fahrig spätmhd. vericzur Ausfahrt bereit‹, im 16. Jahrhundert ›bereit, rasch‹, in neuerer Zeit erst wieder bei L264 Daniel Sanders gebucht »unstät umherfahrend ohne Ausdauer an einem Ort oder bei einer Sache«, jedoch mehrmals bei A075 Johann Wolfgang von Goethe: war er in seinen Bewegungen heftig, etwas fahrig in seinen Äußerungen und unstät in seinem Betragen (Dichtung und Wahrheit 27,139,10), auch ohne negativen Nebensinn: mit meinem lebhaften, fahrigen und immer regsamen Wesen (Dichtung und Wahrheit 85,6); heute gewöhnlich von Körperbewegungen, auch ›unkonzentriert, nervösfahrig werden.
FähreSchiff zum Übersetzen‹, mhd. vere, alte Ableitung (engl. ferry) von einem kausativen Verb zu fahren(ahd. ferienrudern‹), verdeutlicht Fährschiff (L308 Kaspar Stieler), dazu
Ferge, ahd. ferio, mhd. verje, vergeFährmann‹, gebildet wie ↑ "Scherge" zu ↑ "Schar"; im 17. Jahrhundert abgelöst durch Fährmann, aber in der Spätromantik (Uhland) ⇓ "S015" als Literaturwort wiederbelebt (aus mittelhochdeutscher Dichtung, z. B. Nibelungenlied), öfter bei C.F.Meyer.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: fahren