Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
erleben
(mhd. )1etwas erfahren‹, ›von etwas betroffen und empfindlich beeindruckt werdenWer sein Kind lieb hat / der helt es stets vnter der Ruten / Das er hernach freude an jm erlebe (A180 Martin Luther, Sirach 30,1), wie schön ist so etwas gemahlt, wie viel schöner erlebt (Jean Paul; L059 DWb), Wieder ein Glük ist erlebt (A131 Friedrich Hölderlin, Stutgard), die gemeinsam erlebte noth(G.Freytag; L109 Moriz Heyne), was hier zu erleben Hans Castorp noch vor kurzem sich nicht hätte träumen lassen (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 376), und erlebe dich dabei so wechselnd nah und unfaßbar wie nur irgendeine Schöne (B.A250 Botho Strauß, Kongreß 134); der ⇓ "S127" literaturwissenschaftliche Begriff erlebte Rede (1921 E.Lorck, 1924 O.Walzel) für eine Form der Wiedergabe von Gedanken und Vorstellungen in 3. Person bei fehlender Redeeinleitung übersetzt franz. style indirect libre (1912 Ch.Bally); übertragen dieses Buch hat bisher neun Auflagen erlebt;
2bei etwas dabei sein‹, ›zu einer bestimmten Zeit noch lebenDes morgens wirstu sagen / Ah / das ich den abend erleben möchte (A180 Martin Luther, 5.Mose 28,67), Diese Sache werde ich wohl nicht erleben (L004 Johann Christoph Adelung), was man nicht alles erlebt! (L059 DWb), werden wir die Fahrt zum Mond noch erleben? (L337 WdG). Substantivisch zu erleben(1):
Erleben (L033 Joachim Heinrich Campe 1807) Hier empfing meine Knabenseele zum erstenmale den Eindruck eines großen Erlebens (A262 Georg Trakl, Traumland; I,189), die allgemeine Teilnahme an dem Erleben unseres Helden (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 759), in seiner Partitur fehlt die Stimme des bewußten Erlebens und seiner Verarbeitung (W.Hildesheimer, Mozart, 1977/ 1980, 34); ferner
Erlebnis (1814 K.W.Ferber; K.Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff 1972,1), vgl. älteres Erlebung (Klopstock; L033 Joachim Heinrich Campe); fehlt in Goethe-Texten, jedoch zweimal in Gesprächsaufzeichnungen (L092 GoeWb); literarisch zuerst wohl 1832 bei A192 Eduard Mörike (Maler Nolten, 2,177): in ihren Charakteren, Erlebnissen; früh auch bei Grillparzer, B. v.Arnim, ⇓ "S126" häufig bei G.Keller, Der grüne Heinrich; im Titel bei Gotthelf: Erlebnisse eines Schuldenbauers (1854); um 1890 v. a. ›innerer‹ Vorgang: Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt! (A200 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe §119); man wird zugeben, daß das normale, erwartete Ableben eines alten Vaters nicht zu den Erlebnissen gehört, die einen gesunden Erwachsenen krank zu machen pflegen (S.A063 Sigmund Freud VI,40); das Erlebnis der Zeit,welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht (Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 147); für die ⇓ "S127" literaturwissenschaftlichen Begriffe Erlebnisdichtung (1923 A.Korff) und Erlebnislyrik (L257 3RL1,498ff.), die v. a. auf den jungen Goethe bezogen wurden, war grundlegend W.Dilthey Das Erlebnis und die Dichtung (1906); dann als ⇓ "S192" Schlagwort des ⇓ "S145" Nationalsozialismus v. a. das Erlebnis des Weltkrieges und der »Kampfzeit«: Die nationalsozialistische Weltanschauung ist überhaupt mehr auf das Erlebnis, auf Fühlen und Glauben, aufgebaut als auf Intellekt und abstraktem Wissen (L211 Meyer, Konv.Lex. 81937); heute in zahlreichen Zusammensetzungen, z. B. Erlebnisfähigkeit, Erlebnisfülle, Erlebnishunger, Bildungserlebnis, Ferienerlebnis, Fronterlebnis, Jugenderlebnis, Kindheitserlebnis, Kriegserlebnis, Naturerlebnis; inzwischen wie ↑ "Abenteuer" verflacht in Zusammensetzungen wie Erlebniskauf, Erlebnisgastronomie, Erlebnisurlaub. Vgl. J.Schillemeit in: Festschrift H.Henne 2001,319ff.
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