Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
er-
ist ursprünglich identisch mit ↑ {{link}}ur{{/link}}-, aus diesem durch Abschwächung infolge von Tonlosigkeit entstanden. Im Althochdeutschen fungierte es noch als selbständige Präposition (in den Formen ur, ar, er, ir) mit der Bedeutung ›heraus aus‹, woran sich leicht auch die Vorstellung von einer Bewegung aus der Tiefe in die Höhe anknüpfte. Es erhielt sich dann nur in verbalen Zusammensetzungen. Von den jetzt üblichen lassen sich noch manche an den ursprünglichen Sinn der Präposition anknüpfen, z. B. "erlesen", "erschöpfen", "erschließen", erbrechen, "ersehen", "ertragen"(2), "erlegen"(1), "erstehen", "erwachsen", "erziehen", "erheben", "errichten", "erbauen". Im allgemeinen ist dieser Sinn abgeblaßt, und er-hat im wesentlichen nur die Funktion bewahrt, die schon früher ge-hatte, nämlich das Verb zur Bezeichnung eines momentanen Vorgangs zu machen mit den beiden Hauptschattierungen, daß entweder das Geraten in einen Zustand ausgedrückt wird oder der Abschluß, das Ergebnis eines Vorgangs. Bei intransitiven Verben tritt der Unterschied der Zusammensetzung mit dem einfachen Wort im allgemeinen schärfer hervor als bei transitiven. So stehen folgenden Verben, die einen andauernden Zustand bezeichnen, Zusammensetzungen mit er- gegenüber, die das Geraten in denselben ausdrücken: "grünen", "starren", "brausen", "klingen", "schallen", "tönen", "glänzen", "scheinen", "glimmen", "schimmern", "glühen", "beben", "zittern", "staunen", "grausen", "schaudern", "blühen", "sprießen", "wachen". Viele aus Adjektiven abgeleitete Verben sind als einfache Wörter nicht erhalten, vgl. "erblassen", "erbleichen", erblinden, "ergrimmen", "erkalten", "erkranken", ermatten, "ermüden", "erröten", erschlaffen, erstarken; desgleichen ist zu erlöschen das einfache Verb im intransitiven Sinn unüblich geworden.Das Resultat ist ausgedrückt in "erwachsen", "erfolgen" (zugleich mit besonderer Entwicklung der Bedeutung), "ersterben"; desgleichen in erfrieren, ersaufen, "ertrinken", in denen das Resultat in einem Zugrundegehen besteht; auch in "erliegen", worin der Augenblick ausgedrückt ist, in dem der Widerstand aufhört. Eine andere Gruppe "erfrischen", ermannen, "erquicken", "erwecken" bezeichnet eine Wiederherstellung des Regelrechten (L376 Otto Behaghel, Von deutscher Sprache 192). Zahlreich sind die transitiven, aus Adjektiven abgeleiteten Verben, zu denen meist das einfache Wort unüblich geworden ist, vgl. erhöhen, erweiten, "erweitern", erschweren, "erleichtern", "erweichen", "erbittern", "erfrischen", "ergänzen", "erheitern", "erkälten", erneuen, "erneuern", "ermuntern", "ernüchtern", "erquicken", erschlaffen, "erledigen", "ermächtigen", ermöglichen, "ermutigen", "erniedrigen", denen man auch das aus Hitze abgeleitete "erhitzen" zugesellen kann; dazu die nur reflexiv mit intransitiver Funktion gebrauchten sich "erdreisten", "erkühnen", "erfrechen", "erkecken". Wo das einfache Verb noch erhalten ist, gehen die Bedeutungen mehr oder weniger auseinander, zum Teil so, daß in der Zusammensetzung die sinnliche Bedeutung abgeblaßter ist, vgl. "erhärten", "erwärmen", "ermäßigen", "erlösen", "erklären", "erläutern", "erfüllen". In anderen Zusammensetzungen mit transitiven Verben ist die Erzielung eines Resultats ausgedrückt, wobei der Unterschied von dem einfachen Wort je nach der Bedeutung desselben stärker oder schwächer hervortritt, vgl. "erbauen", erdichten, "ergießen", "erwecken", erdulden, "erleiden", ererben, erfassen, erlaben, "ernähren", "erschaffen", "erzeugen", "erheben", "erfreuen", "ermorden", erretten, erproben, erwählen, erbringen; von "ermahnen" kann man nicht mehr sagen, daß es ein Resultat ausdrückt. Als eine besondere Art des Resultates muß das Zugrunderichten hervorgehoben werden, vgl. erdrücken, "erschlagen", "erschießen", erstechen, erhängen, ersäufen, ertränken. Nicht selten zeigen die Zusammensetzungen weitere Bedeutungsmodifikationen, vgl. namentlich "erfinden", "erfordern", "ergeben", "erhören", "erkaufen", "erlegen", ernennen, "ermessen", "eröffnen", "erregen", "ertöten", "ertragen", "erzählen", "erzeigen", "erziehen". In vielen Fällen hat die Zusammensetzung mit er-eine Konstruktionsveränderung zur Folge. Intransitive Verben werden dadurch transitiv. Dabei drückt er- aus, daß man etwas erreicht, zunächst räumlich, dann auf Geistiges übertragen, auch daß man etwas in seinen Besitz bringt, vgl. ereilen, erjagen, erlaufen, ersteigen, erklettern, erklimmen, "ertappen", "erwischen"; "erlangen", "erreichen"; "erleben"; erblicken, erschauen, erlauschen; "erforschen", erspähen, erwittern, ergrübeln, "erlernen", "erraten", ergründen, "erfahren"; erschleichen, erschnappen, "erwerben", erangeln, erarbeiten, erpflügen, erbetteln, erfechten, erkämpfen, erstreiten, "erringen", erhandeln, erschmeicheln, ertrotzen, ersingen, "ersitzen", erwuchern. Seltener bezeichnet der Akkusativ etwas erst durch Tätigkeit Erzeugtes: ersinnen, erlügen, erheucheln, erträumen, erklügeln, erkünsteln, "erzielen". An die intransitive Funktion der betreffenden Verben anzuschließen sind auch wohl "ergreifen", erhaschen, erstürmen, erheiraten, ersparen; erdenken, erdichten, "erachten". In einigen Fällen hat er- nur noch die Funktion, das Verb transitiv zu machen, ohne daß die Erreichung eines Resultates ausgedrückt ist, vgl. erharren, "erwarten" (beide aber früher auch mit Genitiv), erhoffen, ersehnen, "erstreben" (früher ›durch Streben erreichen‹), vgl. auch "erzielen"(3). In der Zusammensetzung mit transitiven Verben kann er-die Wirkung haben, daß eine andere Art von Objektsakkusativ hinzutreten kann als zum einfachen Wort, vgl. "erbitten", "erfragen", "erzwingen", "erpressen", "erholen"(sich). In der Zusammensetzung mit Substantiven steht ursprünglich nicht er-, sondern, weil der Hauptton darauf ruht, die unabgeschwächte Form ur-. Es haben sich aber schon teils im Mittelhochdeutschen, teils erst im Neuhochdeutschen eine Anzahl von Substantiven mit er-herausgebildet mit Anschluß an die betreffenden Verben, zunächst solche, in denen das zweite Element schon selbständig oder in anderen Zusammensetzungen existierte, vgl. "Erguß", "Erlaß", "Ersatz", dann auch ganz neu gebildete, vgl. "Erfolg", "Erlös", "Ertrag", Erweis, "Erwerb". Ähnlich verhält es sich mit den Adjektiven "erbötig", "ergiebig". Von anderen Präfixen konkurriert namentlich {{link}}ver{{/link}}- mit er-, vgl. erhöhen – "vertiefen", "erweitern" – verengen. In vielen Fällen, in denen jetzt ver-herrscht, bestanden frühneuhochdeutsch Zusammensetzungen mit er-, z. B. erarmen, erfaulen, ergrößern, erdienen, erhungern. Andererseits steht ver- mundartlich anstelle des schriftsprachlichen er-.
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