Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
empfinden
ahd. intfindan, mhd. entvinden > enphinden, ⇓ "S016" assimiliert > empfinden (so überwiegend seit dem 16. Jahrhundert), ↑ {{link}}ent{{/link}}-, ↑ "finden". Schon althochdeutsch1sinnlich (und geistig) wahrnehmen, spüren‹ (einen Schlag, Hitze, Kälte empfinden). Die emotionale Seite
2fühlen, innerlich erfahren‹ (Reue, Mitleid empfinden) tritt besonders in der spätmittelhochdeutschen ⇓ "S142" Mystik hervor. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der "Empfindsamkeit", »vertieft sich sein Gehalt so sehr, daß es als Ausdruck höchster seelischgeistiger Fähigkeit des Menschen angesehen wird« (L320 Trübner); es kann auch ›sich empfindsam geben im Sinne der Gefühlskultur‹ bedeuten (L092 GoeWb); empfinden übersteigt das bloß Verstandesmäßige, vgl. Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja was noch mehr ist, empfunden (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Wahlverwandtschaften 20,66,6); speziell auch ›Liebe fühlen‹: O könntest du ein Weib sein und empfinden (A222 Friedrich Schiller, Jungfrau 4,2). Reflexiv sich empfinden bei Sachs, bei S.Franck in der Bedeutung ›Stolz fühlen‹, auch mit prädikativem Adjektiv: wozu sie sich geboren empfinden (Wieland); so heute kaum noch gebräuchlich.
empfindlich (ahd. ) ⇓ "S075"
1was empfunden werden kann, spürbar‹: die Erschütterung, die im Innern des Landes nicht empfindlich war (I.Kant), sie lieber in einer Nachahmung empfindlich zu machen(Lessing), in diesem allgemeinen Sinn nicht mehr üblich; speziell ›was unangenehm empfunden wird, weswegen man sich verletzt fühlt‹: die Höflichkeit der fremden Dame ist mir empfindlicher als die Grobheit des Wirts (Lessing), dieser Vorwurf ist mir so empfindlich(Schiller); noch jetzt allgemein wie "merklich" ›bedeutend, stark‹, jedoch immer nur von Sachen, die empfunden werden: empfindlicher Verlust, jmdn. empfindlich strafen;
2fähig zur Empfindung‹; im allgemeinen Sinn geblieben in unempfindlich; ⇓ "S235" im 18. Jahrhundert nicht selten wie empfindsam (s. unten), durch das es allmählich verdrängt wird: empfindliche Seelen, empfindliches Herzu.dgl.; jetzt nicht mehr mit näherer Bestimmung für die Liebe, die Freundschaft, mit anderen Präpositionen: daß er gegen die Schönheit ein wenig zu empfindlich war (Lessing), der ihn wieder zum Genusse des Lebens empfindlich machte (Nicolai). Am gewöhnlichsten sind heute die Bedeutungen ›leicht verletzbar, schnell gereizt‹ (von Personen; 18. Jahrhundert), ›leicht zu beschädigen, schnell verschmutzend‹ (von Stoffen oder Kleidung; frühnhd.), ›anfällig gegen Krankheiten‹ (frühnhd.) ›genau, präzise‹ (von Meßinstrumenten; L337 WdG). Empfindnis ahd. inphuntnussi war bis ins 18. Jahrhundert üblich.
empfindsam"S024""S123""S235" durch Bodes Übersetzung von Sternes ›Sentimental Journey‹, worin es auf ⇓ "S032""S071" Lessings Vorschlag (Wagen Sie empfindsam!) 1768 für engl. sentimental gewählt wurde (›Yoricks empfindsame Reise… ‹), üblich geworden, aber schon seit 1757 von Frau Gottsched (besser bekannt als Gottschedin) und anderen Leipzigern gebraucht (L360 ZDW6,307); empfindsam und Empfindsamkeit wurden von den Zeitgenossen als Leitwörter einer geistigen Bewegung gebraucht. »Sie [diese Bewegung] hat ihren geistesgeschichtlichen Ort in der Verweltlichung des im Pietismus ausgebildeten Gefühlschristentums, zu der um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Durchbruch der vom Rationalismus unterdrückten seelischen Kräfte kam« (L320 Trübner). ⇓ "S166" Kritiker solchen Gefühlsüberschwangs (Wieland, Claudius, I.Kant u. a.) bilden seit den 1770er Jahren empfindeln, Empfindelei u.ä., die mit dem Abklingen der Mode wieder in Vergessenheit gerieten; dazu
EmpfindsamkeitGefühlsbetontheit, Sentimentalität‹ (1765 Weiße; L060 2DWb), vgl. etwa Campes Schrift Über Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht (1779) und A075 Johann Wolfgang von Goethes Satire Der Triumpf der Empfindsamkeit(Druck 1787); zugleich auch schon für die ⇓ "S061" Epoche, dann ⇓ "S127" literaturwissenschaftlicher Terminus. Vgl. L069 Europäische Schlüsselwörter 2,167ff. ⇑ "sentimental", "Sentimentalität".
Empfindung spätmhd. inphindunge, bei L308 Kaspar Stieler 1691 gebucht, doch laut J.Grimm »erst in der zweiten hälfte des vorigen [18.] jahrhunderts recht in gang gekommen« (L059 DWb). Dazu
Empfindungswort im 18. Jahrhundert als Verdeutschung für ↑ "Interjektion" (schon L004 Johann Christoph Adelung, vgl. L032 Joachim Heinrich Campe Erg. 1801): Vieler Reden kurzer Sinn ist eine Interjektion, ein Empfindungswort, wie die Grammatik verdeutscht (B.A254 Botho Strauß, Paare 88f.).
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