Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
eigentlich
mhd. eigenlich (Adverb), eigenliche (Adjektiv), frühnhd. auch eigenlichen, abgeleitet vom Adjektiv ↑ "eigen", mit schon Ende des 13. Jahrhunderts belegtem (L060 2DWb), seit Mitte des 16. Jahrhunderts festem, zwischen -n- und -l- häufigem ⇓ "S078" Gleitkonsonanten -t-, vgl. "öffentlich", "ordentlich", "wesentlich" (L327 Voc.Teut.-Lat. 1482: Eygentlich); mhd. und frühnhd. Adjektiv und Adverb.1.1eigen‹, ›leibeigen‹ (L190 Lexer): sin eigenlichez kint (Konrad von Würzburg; L059 DWb); wäre also… anzuweisen, was dem seel. h. Freisleben eigentlich zukomme (Leibniz; L060 2DWb); von meinem eigentlichen knecht (Spener; L060 2DWb); hierher noch eigentlicher Name im Sinne von ›Eigenname‹: Was aber die nomina propria oder eigendlichen namen der Gotter/ Manner vnd Weiber vnd dergleichen betrifft (1624 A203 Martin Opitz, Poeterey 25);
1.2eigentümlich, von Natur aus‹: eine vernünftige freyheit des willens, welche kein thier eigentlich hat (1669 Schottel; L060 2DWb);
1.3eigenständig‹: eyn eygentlich… dynck (15. Jahrhundert; L060 2DWb); Eine eigendliche Meinung und Verstand der Rede (L308 Kaspar Stieler 1961);
1.4eigens, zu einem bestimmten Zweck‹: daß diese Schnurren aus den vertraulichen Gesprächen entstanden, die er… mit einigen Freunden in dazu eigentlich bestimmten Zusammenkünften gehalten (A177 Gotthold Ephraim Lessing, 14,31); eigentliche Mittel (L169 Matthias Kramer 1702);
2 (mhd. bis ins 19. Jahrhundert, inzwischen veraltet) Adjektiv und Adverb ›korrekt, genau, definitiv, angemessen, passend, geziemend‹, »mercklich« (L327 Voc.Teut.-Lat.), »der Sache völlig gemäß« (L004 Johann Christoph Adelung): in eigenlicher wise(Konrad von Würzburg; L060 2DWb); nit Eygentlich sehen oder verstehn (L037 Petrus Dasypodius); ich will euch eigentlich erzehlen wie es zugegangen (L169 Matthias Kramer); er ist gar ein eigentlicher Menschen(ebenda) ich weisz es ganz eigentlich, ich habe es an meine cabinetthüre geschrieben (Lessing; L059 DWb); hierher auch eigentlich (zu) reden (schon 1534 Schwarzenberg; L060 2DWb), »Eigentlich zu reden, die Wahrheit zu sagen, wie die Sache es erfordert« (L004 Johann Christoph Adelung); selten im Komparativ: Weitleufftiger vnd eigentlicher zue schreiben hat mich… die enge der zeit… verhindert (1624 A203 Martin Opitz, Poeterey 3); Gegensatz dazu uneigentlich: uneigentliche Worte (L169 Matthias Kramer 1702); Uneigentlich reden (L305 Christoph Ernst Steinbach 1734); hierher auch frühneuhochdeutsch seine Sache gar eigentlich haben wollenin den eigenen Belangen sehr gewissenhaft sein‹ (L169 Matthias Kramer);
3 Adjektiv ›seltsam, sonderbar‹ (wohl erst frühneuhochdeutsch), »Sunderlich« (L200 Josua Maaler 1561): auch ist eigentlich, das sich der keiser sehr rüstet und nicht gegen den türken (Melanchthon; L059 DWb); Durch ganz eigentlichen Zufall bin ich im botanischen Garten wohnhaft (A075 Johann Wolfgang von Goethe, IV,28,125);
4 nur als Adverb ›im Grunde genommen, in Wirklichkeit‹: Es ist Eigentlich also ergangen (L200 Josua Maaler 1561); Zuletzt lieb' ich doch eigentlich nur dich (A060 Theodor Fontane, Schach; 1,577); Eigentlich hieß er Heinrich Schaumann(A210 Wilhelm Raabe, Stopfkuchen; 18,26); »Ja, wenn man ihr aufpaßt, der Zeit, dann vergeht sie sehr langsam. Ich habe das Messen, viermal am Tage, ordentlich gern, weil man doch dabei merkt, was das eigentlich ist: eine Minute oder gar ganze sieben… « »Du sagst ›eigentlich‹ ›Eigentlich‹ kannst du nicht sagen«, entgegnete Hans Castorp… »Die Zeit ist doch überhaupt nicht ›eigentlich‹«(Th.A183 Thomas Mann, Zauberberg 94); mit Negation: Eigentlich hättest du dieses nicht thun sollen, »dem Rechte nach« (L004 Johann Christoph Adelung; L033 Joachim Heinrich Campe erklärt durch »genaugenommen«); Es war doch eigentlich nicht hübsch von dir (A210 Wilhelm Raabe, Stopfkuchen; 18,72); Elisabeth Kramer sagt, Unser Vater war eigentlich kein Nazi. Der hatte immer die sozialdemokratische Zeitung vorher (H.J.A219 Hans Joachim Schädlich, Ostwestberlin 115); in Verbindung mit nichtund recht: man hat gelernt, das äusserliche Wort sei nicht eigentlich das rechte mittel des heyls (1718 Löscher; L059 DWb); Eine Stunde später… kam ein zweiter Zug, und bis dahin allein zu sein war ihr keinenfalls unwillkommen, ja recht eigentlich das, wonach sie sich sehnte (A060 Theodor Fontane, Stine; 2,564); Gegensatz dazu uneigentlich; auch ironisch: und es hieß schon damals, vor vierzig Jahren: ›Es sei doch ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen.‹ Aber uneigentlich ging alles hin (A060 Theodor Fontane, L'Adultera; 2,39); des weiteren
5 Adverb und Adjektiv, heute nur noch attributiv gebraucht,
5.1wirklich, echt, wahr(haftig), tatsächlich, ursprünglich, richtig‹: sowohl die eigentliche, als uneigentliche bedeutung der wörter (1720 Wolff; L060 2DWb); das ist mein eigentliches Vaterland (L305 Christoph Ernst Steinbach); Der eigentliche Diederich (H.A182 Heinrich Mann, Untertan 72); substantivisch: ich schreibe dir kurze zeit, nachdem ich dich verlassen, ohne daß ich dir etwas eigentliches zu sagen wüßte (Mörike; L060 2DWb); auch im Komparativ und Superlativ: Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kuhn in seiner Welt umher (A074 Johann Wolfgang von Goethe, 6,113f. LH); Ihn [den Traum] zu erlauschen… heißt darum, von unserer eigentlichsten Eigenheit zu erfahren (S.Zweig; L337 WdG);
5.2ohne Umschweife, wörtlich, nicht übertragen‹ (schon mhd. ): selbiger wolle… versuchen, nur diese hier vorerwehnte gesatzte wörter so eigentlich und kurtz zugeben. ich sage eigentlich, denn wenn es mit weiten umbschweiffen und metaphorischer weise geschiehet, wird kein gnugsames sein (1643 Schottel; L060 2DWb); wer Nietzsche ›eigentlich‹ nimmt, wörtlich nimmt,… ist verloren (Th.Mann; L060 2DWb);
5.3einzig, allein‹: fur got eigentlich der glaube heilig machet und alleine yhm dienet (Luther; L060 2DWb); eintzig und eigentlich (J.C.Sturm; L060 2DWb);
5.4 insbesondere in der Wendung im eigentlichen Sinne/ Verstandestrenggenommen, im wahrsten Sinne des Wortes‹: Der Architekt arbeitete Tag und Nacht… Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne(A074 Johann Wolfgang von Goethe, 17,271 LH). Was zunächst, im Anschluß an (4) und (5), einen Fragesatz als Frage nach dem Wahren, Wesentlichen, Wirklichen oder Ursprünglichen kennzeichnete, mag später v. a. in spontanen, vom aktuellen Gesprächsthema abweichenden Fragen verwendet und schließlich als Hinweis auf persönliche Anteilnahme oder persönliches Interesse (das den Grund für die spontane Frage bildet) verstanden worden sein, daher
6 der Gebrauch als ⇓ "S002" Abtönungspartikel (1567 Waldner; L060 2DWb),
6.1 in Entscheidungs- und Ergänzungsfragen ›Sprecher zeigt an, daß er an dem gefragten Inhalt ein echtes, persönliches Interesse hat (und daß es keinen aktuellen, aus der Situation begründeten Anlaß für seine Frage gibt)‹, oft in Verbindung mit den bedeutungsähnlichen ⇑ "denn", "überhaupt": warum begert jr eigentlich / zu narren vnd betriegen mich (Pyramusspiel; L060 2DWb); Aber sage mir nur, lieber Vetter, was wollte denn eigentlich der Baron von Dir? (E.T.A.A127 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Majorat; 2,112); Sage, Baarsch, was hälst du eigentlich von heiraten? (A060 Theodor Fontane, Schach; 1,668); Sie, Doktorchen, sagen Sie mal, wie heißt sowas eigentlich auf lateinisch? (O.E.A108 Otto Erich Hartleben, Ausgewählte Werke III,212); »Was bist du eigentlich für ein Mensch?« fragte er (A018 Heinrich Böll, Ansichten 261); in indirekten Fragesätzen: Wie ich eigentlich zuerst in sein Haus gekommen bin, weiß ich nicht recht (A210 Wilhelm Raabe, Stopfkuchen; 18,71);
6.2 in rhetorischen Fragen ›Sprecher zeigt an, daß er an dem in Frage stehenden Problem ein echtes, persönliches Interesse hat, den in der Frage beschriebenen Sachverhalt aber für völlig unbegründet hält‹: Wer hatte eigentlich das Recht, dich so als geistigen und körperlichen Kretin so hier hinzustellen: so! -? (A210 Wilhelm Raabe, Stopfkuchen; 18,133); Wozu eigentlich möcht ich das wissen! Was geht's mich an! (M.A064 Max Frisch, Andorra 537).
Eigentlichkeit Fem. (wohl erst 17. Jahrhundert)
1 Plural ›Einzelheiten‹: ohne ausgedruckte eigentlichkeiten(1672 Francisci; L060 2DWb);
2wohlgesetzte Worte, Artigkeiten‹: er vergas nicht noch mehr eigentlikeiten… herauszudrucken (1644 Werder; L060 2DWb); Bedeutung (1) und (2) nur im Plural bezeugt, veraltet.
3strenger Sinn‹, ›wesentliche Eigenheit, In-seinem-Eigenen-Sein‹ (v. a. in der ⇓ "S168" Philosophie), Gegensatz Uneigentlichkeit: Sie sehen, welche Wichtigkeit für unsere Untersuchung der Begriff des Monotheismus hat, daß er sogar über die Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit der Mythologie entscheidet (1857 F.W.Schelling, Philosophie der Mythologie [Neudruck 1957] 2,23); in diesem Sinne auch als eines der »Existenzialien« bei A115 Martin Heidegger: Zum existierenden Dasein gehört die Jemeinigkeit als Bedingung der Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit (Sein und Zeit 53); vgl. dazu Th.W. Adorno: In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins; Untersprache als Obersprache… Der Jargon der Eigentlichkeit ist Ideologie als Sprache, unter Absehung von allem besonderem Inhalt (Jargon der Eigentlichkeit, 1964,9,132).
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