Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Auge
Das gemeingermanische Wort (engl. eye) ist wohl mit lat. oculus, griech. ósse (Dual) verwandt; ahd. ouga; heute im Singular stark, im Plural schwach.1 Wichtigstes Sinnesorgan und zugleich Spiegel des Innern; ein zentrales Wort bei Goethe: das Auge vernimmt und spricht. / In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch. / Die Totalität des Innern und Äußern wird durch das Auge vollendet; Wär' nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt' es nie erblicken (L092 GoeWb); G.A155 Gottfried Keller, Abendlied: Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, / Von dem goldnen Überfluß der Welt. Die Augen sind Zeichen oder Anzeichen innerer Regungen (vgl. unten
⊚⊚ ), »sprechen« geradezu: Augen sagt mir, sagt was sagt ihr? (A075 Johann Wolfgang von Goethe April; 3,34); Schon dankte… / Sein sprechend Aug dem Sonnenlicht (A222 Friedrich Schiller, Die Künstler 190). Viele traditionelle Verbindungen, vielfach mit übertragener Bedeutung und idiomatisiert (vgl. L059 DWb, L258 Lutz Röhrich, L296 Keith Spalding, L337 WdG, L177 Heinz Küpper):
⊚⊚ ⇓ "S036" biblisch (A180 Martin Luther) sich die Augen ausweinen (Jeremia Klagelieder 2,11); jmdm. gehen [vor Rührung] die Augen über(Johannes 11,35; vgl. A075 Johann Wolfgang von Goethe König in Thule); Gnade vor jmds. Augen finden (1. Mose 18,3); jmdm. unter die Augen treten ›vor jmdn. hintreten‹ (Weisheit Salomos 12,14); ferner jmdm. gehen die Augen auf ›man erkennt, wird sich (spät) bewußt‹ (Lessing; L059 DWb); entsprechend jmdm. die Augen öffnen ›aufklären‹ (Goethe; L059 DWb); die Augen offenhalten ›aufmerksam sein‹ (L092 GoeWb); ein Auge auf etwas haben »insgeheim darnach streben« (L003 Johann Christoph Adelung 1774); ein Auge auf jmdn. haben ›in jmdn. verliebt sein‹ (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Der Schatz, 3. Auftritt); ein Auge für etwas haben ›Spezialist sein für‹ (wohl 19. Jahrhundert, älter engl. to have an eye for something); ein Auge auf etwas/ jmdn. werfen ›das Interesse richten auf‹ (L169 Matthias Kramer 1700); etwas ins Auge fassen ›betrachten, erwägen‹, auch ›beabsichtigen‹ (Weise; L059 DWb); etwas im Auge haben bzw. behalten (Goethe; L059 DWb), ähnlich etwas nicht aus den Augen lassen ›ständig beobachten, bewachen‹ (L169 Matthias Kramer); die Augen überall haben ›nichts unbeobachtet lassen‹ (L169 Matthias Kramer); etwas sticht jmdm. in die Augen ›fällt auf‹ (A091 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Simplizissimus 236,34); jmdm. Augen machen ›verliebt tun‹ (in mundartlichen Varianten; vgl. L333 Karl Friedrich Wilhelm Wander); umgekehrt bei etwas ein Auge (verstärkt beide Augen) zudrücken ›etwas durchgehen lassen, stillschweigend erlauben‹ (L305 Christoph Ernst Steinbach 1734); auf einem Auge blind sein ›sich einseitig parteiisch verhalten‹, wohl jung; in meinen Augen ›aus meiner Sicht‹ (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Minna 5,5; ebenda in den Augen der Welt); etwas mit andern Augen ansehen ›aus anderer Sicht betrachten‹ (L169 Matthias Kramer); große Augen machen ›staunen‹ (Wieland; L059 DWb); mit einem blauen Auge (›geringem Schaden‹) davonkommen (L305 Christoph Ernst Steinbach); ein Auge riskieren ›sich verstohlen interessieren‹ (Anfang des 20. Jahrhunderts; L177 Heinz Küpper; etwas geht ins Auge ›geht schief‹ (A222 Friedrich Schiller, Räuber 4,3); jmdm. etwas an den Augen ansehen ›seinem (verräterischen) Blick entnehmen‹ (L200 Josua Maaler 1561); jmdm. einen Wunsch u.ä. an den Augen ablesen; Aug in Auge ›von Angesicht zu Angesicht‹ (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3447 u.ö.); unter vier Augen »blos in Gegenwart noch einer Person« (L004 Johann Christoph Adelung), nach franz. entre quatre yeux. Ferner jmdm. ein Dorn im Auge sein (mhd. ), ↑ "Dorn"; etwas paßt (schickt sich) wie die/ eine Faust aufs Auge (›gar nicht‹; L305 Christoph Ernst Steinbach), ↑ "Faust"; jmdm. Sand in die Augen streuen, ↑ "Sand"; jmdm. fällt es wie Schuppen von den Augen (↑ "Schuppe"). Zahlreiche Sprichwörter, vgl. L333 Karl Friedrich Wilhelm Wander Nr. 1–445, z. B. das auch in anderen europäischen Sprachen verbreitete Aus den Augen, aus dem Sinn (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3096); biblisch Auge um Auge, Zahn um Zahn (A180 Martin Luther, Matthäus 5,38). ⇓ "S074" Geflügeltes Wort nach A222 Friedrich Schiller, Glocke: das Auge des Gesetzes wacht. Besonders in spätmittelhochdeutscher ⇓ "S142" Mystik wird Auge von der Intellektualisierung des Wortschatzes erfaßt: mit den inren ougen erblicken (Lamprecht; L109 Moriz Heyne); mit miner selen ougen (Mechthild; L320 Trübner); schon Walther v. d.Vogelweide (99,22) mines herzen ougen; diese Metaphorik setzt sich über die ⇓ "S170" Pietisten (vgl. L184 August Langen 21968,368f.) fort, vgl. bei Goethe mit den Augen seiner Seele; mit den Augen des Geistes; meinem geistigen Auge; dem inneren Auge; mit Geistesaugen (vgl. L092 GoeWb); bei A222 Friedrich Schiller, Melancholie 111 die Augen meines Geists erblinden; noch heute: Wem das Auge des Geistes aufgegangen ist, der sieht unsichtbare, mit ihm verbundene Dinge (Ch.A285 Christa Wolf, Ort 131).
2 Verschiedene nach Aussehen oder Funktion übertragene Bedeutungen, schon mhd. ›Knospe‹ (A180 Martin Luther, Hohelied 7,12) und ›Punkt(e) auf dem Würfel‹; ferner ›Fetttropfen auf einer Flüssigkeit‹ (Fettauge), »der kleine Punct in dem hellsten Theile des Weißen eines Eyes« (L004 Johann Christoph Adelung); auch für bestimmte Öffnungen oder Löcher (vgl. engl. window ›Fenster‹, ursprünglich wörtlich ›Windauge‹): das Auge in den Schmelzöfen (L004 Johann Christoph Adelung; ebenda jetzt veraltet die Augen in einem Käse); vgl. G.A155 Gottfried Keller, Abendlied: Augen, meine lieben Fensterlein. Für neuere technische Verwendungen vgl. "Katzenauge" (↑ "Katze"), magisches Auge (früher am Radio). Als Grundwort z. B. in
Argusaugen ⇓ "S172" (1696; L081 FWb), ⇓ "S055" ⇓ "S143" nach dem alles sehenden Wächter Argus bei Aischylos: mit Argusaugen betrachten, über etwas wachen (L027 Büchmann);
Bullauge ›kreisrundes Kajütenfenster‹ < engl. bull's eye ⇓ "S196" (um 1900; L162 Friedrich Kluge, Seemannssprache).
Pfauenauge für die entsprechende Zeichnung der Schwanzfedern des Vogels (für ein ähnliches Farbenspiel A075 Johann Wolfgang von Goethe, 3,101, V.14), von daher wieder übertragen als Bezeichnung mehrerer Schmetterlingsarten;
Stielaugen ⇓ "S172" ⇓ "S202" im 1. Weltkrieg ›Fernrohr‹ (L347 Helmut Wocke); übertragen im erklärenden Beleg: mit Augen, die ihm fast aus dem Kopfe traten, mit Stielaugen also (A054 Hans Fallada, Blechnapf 221),
⊚ mit Stielaugen (›gierig‹) betrachten; ⇑ "Glotzauge", "Holzauge", "Hühnerauge", "Neunauge", "Schlitzauge". Weitere Zusammensetzungen und Ableitungen:
Augapfel (ahd. ) übertragen ›das Liebste‹ (A180 Martin Luther, 5.Mose 32,10). Diese Tochter ist sein Augapfel (A222 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe 5,5). Sonst mit Genitivform (frühneuhochdeutsch noch Augbraue, Auglid u. a.):
Augenblick (mhd. ) nicht mehr ›Aufschlagen der Augen‹, sondern ⇓ "S030" metonymisch ›ganz kurzer Zeitraum, Moment‹ (14. Jahrhundert); bei Goethe (wie Auge) ungewöhnlich ⇓ "S126" häufiges und wichtiges Wort, auch wegen der »Dialektik von Augenblick und Dauer« (L092 GoeWb), vgl. Dem Augenblick Dauer verleihen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Das Göttliche); Werd' ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1699); Gunst des Augenblickes (⇓ "S074" A075 Johann Wolfgang von Goethe, Elegie 104; 1,3,25) geflügeltes Wort;
Augenblicksbildung in der Wortbildungslehre (z. B. 1914 L360 ZDW15,105) ⇓ "S018" ›(einmalige) Gelegenheitsbildung‹, vgl. für poetische Bildungen A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,7660f.: Mordgeschrei und Sterbeklagen! / Ängstlich Flügelflatterschlagen!; (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,7669) Fettbauch-Krummbein-Schelm; Scherzbildungen z. B. in Gedichttiteln Ch.A190 Christian Morgensterns: Das Tellerhafte, Das Geierlamm, Brief einer Klabauterfrau, Der Großstadtbahnhoftauber.
augenblicklich (mhd. ) als Adjektiv ›im gegenwärtigen Moment vorhanden‹, als Adverb besonders ›in kürzester Frist, sofort‹, so auch
augenblicks (frühnhd.) Der Prinz … wird augenblicks erscheinen (H.v.A160 Heinrich von Kleist, Homburg 1723).
Augenbraue (ahd. ougbrawa) durch Übernahme des -nder flektierten Form (und Anlehnung an braun) früher auch Augenbraune, bei Goethe noch gleich häufig (L092 GoeWb), bei ihm auch Augenbraun Neutr. : mit hohem Augenbraun auf die ältern und mittleren herabsehen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Farbenlehre 1, XVI,8); früher Schwanken der Bedeutung entsprechend ↑ "Braue".
Augenlid (mhd. ) ↑ "Lid", Lider-Plural seit Luther, doch schwach Augenlieden noch Rückert (L320 Trübner).
Augenmaß (1551; L320 Trübner) ›durch bloßes Sehen geschätzte Quantität‹, besonders ›Fähigkeit dazu‹, jüngst floskelhaft Politik mit Augenmaß.
Augenmerk ›Zielpunkt der Aufmerksamkeit‹ (im 17. Jahrhundert < ⇓ "S151" niederländ. oogmerk) sein Augenmerk richten auf; früher auch ›Absicht, Anliegen‹ Sein einziges Ziel und Augenmerk(Eichendorff; L337 WdG); verdeutlicht Hauptaugenmerk (1805 Goethe; L320 Trübner).
Augenpulver ⇓ "S027" übertragen ›kleine, die Augen anstrengende Schrift oder Drucktype‹ (L169 Matthias Kramer 1700), wohl nach franz. poudre aux yeux.
Augenschein (15. Jahrhundert) zu "Schein" ›Art, wie sich etwas den Augen darstellt‹ der Augenschein lehrt, trügt; in Augenschein nehmen auch förmlich ›inspizieren‹ (1594; L239 PBB(H) 97,215); juristisch ›Besichtigung‹ einen Augenschein vornehmen (L004 Johann Christoph Adelung); sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, durch eigenen Augenschein (J.A006 Jurek Becker, Lügner 203); dazu
augenscheinlich (1514; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) ›offensichtlich‹, heute gewöhnlich adverbial, eher gehoben.
Augenweide ›was die Augen erfreut‹, schon mittelhochdeutsch geläufig (auch lateinisch); vgl. mit ähnlicher Vorstellung Ohrenschmaus.
Augenzeuge ›jmd. , der einen (juristisch wichtigen) Vorgang persönlich wahrgenommen hat‹ (L308 Kaspar Stieler 1691), allgemeiner ›jmd. , der aus eigener Erfahrung berichtet‹ (L004 Johann Christoph Adelung) Ich will nicht … Novellen erzählen… , sondern lediglich als Augenzeuge… zum Bild dieses Mannes beitragen (A124 Hermann Hesse, Steppenwolf 19); auch journalistisch Augenzeugenbericht.
äugeln ›(liebevoll) blicken‹ (mhd. ) Sie hatte mit Männern geäugelt und geliebelt (Feuchtwanger; L337 WdG), vgl. "liebäugeln".
äugen (mhd. / mittelniederdt.) gewöhnlich von Tieren ›blicken‹ ein blaues Wild, / Ein Äugendes unter dämmernden Bäumen (Trakl; L337 WdG), dazu anäugen (L169 Matthias Kramer), ↑ "beäugen"; s. auch "ereignen". -
äugig, früher auch -äugicht, in blauäugig (übertragen ›naiv auf gehobener Bildungsstufe‹), einäugig, glotzäugig, mandeläugig, schlitzäugig, starräugig usw. (L169 Matthias Kramer 1700).
⊚⊚ ), »sprechen« geradezu: Augen sagt mir, sagt was sagt ihr? (A075 Johann Wolfgang von Goethe April; 3,34); Schon dankte… / Sein sprechend Aug dem Sonnenlicht (A222 Friedrich Schiller, Die Künstler 190). Viele traditionelle Verbindungen, vielfach mit übertragener Bedeutung und idiomatisiert (vgl. L059 DWb, L258 Lutz Röhrich, L296 Keith Spalding, L337 WdG, L177 Heinz Küpper):
⊚⊚ ⇓ "S036" biblisch (A180 Martin Luther) sich die Augen ausweinen (Jeremia Klagelieder 2,11); jmdm. gehen [vor Rührung] die Augen über(Johannes 11,35; vgl. A075 Johann Wolfgang von Goethe König in Thule); Gnade vor jmds. Augen finden (1. Mose 18,3); jmdm. unter die Augen treten ›vor jmdn. hintreten‹ (Weisheit Salomos 12,14); ferner jmdm. gehen die Augen auf ›man erkennt, wird sich (spät) bewußt‹ (Lessing; L059 DWb); entsprechend jmdm. die Augen öffnen ›aufklären‹ (Goethe; L059 DWb); die Augen offenhalten ›aufmerksam sein‹ (L092 GoeWb); ein Auge auf etwas haben »insgeheim darnach streben« (L003 Johann Christoph Adelung 1774); ein Auge auf jmdn. haben ›in jmdn. verliebt sein‹ (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Der Schatz, 3. Auftritt); ein Auge für etwas haben ›Spezialist sein für‹ (wohl 19. Jahrhundert, älter engl. to have an eye for something); ein Auge auf etwas/ jmdn. werfen ›das Interesse richten auf‹ (L169 Matthias Kramer 1700); etwas ins Auge fassen ›betrachten, erwägen‹, auch ›beabsichtigen‹ (Weise; L059 DWb); etwas im Auge haben bzw. behalten (Goethe; L059 DWb), ähnlich etwas nicht aus den Augen lassen ›ständig beobachten, bewachen‹ (L169 Matthias Kramer); die Augen überall haben ›nichts unbeobachtet lassen‹ (L169 Matthias Kramer); etwas sticht jmdm. in die Augen ›fällt auf‹ (A091 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Simplizissimus 236,34); jmdm. Augen machen ›verliebt tun‹ (in mundartlichen Varianten; vgl. L333 Karl Friedrich Wilhelm Wander); umgekehrt bei etwas ein Auge (verstärkt beide Augen) zudrücken ›etwas durchgehen lassen, stillschweigend erlauben‹ (L305 Christoph Ernst Steinbach 1734); auf einem Auge blind sein ›sich einseitig parteiisch verhalten‹, wohl jung; in meinen Augen ›aus meiner Sicht‹ (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Minna 5,5; ebenda in den Augen der Welt); etwas mit andern Augen ansehen ›aus anderer Sicht betrachten‹ (L169 Matthias Kramer); große Augen machen ›staunen‹ (Wieland; L059 DWb); mit einem blauen Auge (›geringem Schaden‹) davonkommen (L305 Christoph Ernst Steinbach); ein Auge riskieren ›sich verstohlen interessieren‹ (Anfang des 20. Jahrhunderts; L177 Heinz Küpper; etwas geht ins Auge ›geht schief‹ (A222 Friedrich Schiller, Räuber 4,3); jmdm. etwas an den Augen ansehen ›seinem (verräterischen) Blick entnehmen‹ (L200 Josua Maaler 1561); jmdm. einen Wunsch u.ä. an den Augen ablesen; Aug in Auge ›von Angesicht zu Angesicht‹ (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3447 u.ö.); unter vier Augen »blos in Gegenwart noch einer Person« (L004 Johann Christoph Adelung), nach franz. entre quatre yeux. Ferner jmdm. ein Dorn im Auge sein (mhd. ), ↑ "Dorn"; etwas paßt (schickt sich) wie die/ eine Faust aufs Auge (›gar nicht‹; L305 Christoph Ernst Steinbach), ↑ "Faust"; jmdm. Sand in die Augen streuen, ↑ "Sand"; jmdm. fällt es wie Schuppen von den Augen (↑ "Schuppe"). Zahlreiche Sprichwörter, vgl. L333 Karl Friedrich Wilhelm Wander Nr. 1–445, z. B. das auch in anderen europäischen Sprachen verbreitete Aus den Augen, aus dem Sinn (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3096); biblisch Auge um Auge, Zahn um Zahn (A180 Martin Luther, Matthäus 5,38). ⇓ "S074" Geflügeltes Wort nach A222 Friedrich Schiller, Glocke: das Auge des Gesetzes wacht. Besonders in spätmittelhochdeutscher ⇓ "S142" Mystik wird Auge von der Intellektualisierung des Wortschatzes erfaßt: mit den inren ougen erblicken (Lamprecht; L109 Moriz Heyne); mit miner selen ougen (Mechthild; L320 Trübner); schon Walther v. d.Vogelweide (99,22) mines herzen ougen; diese Metaphorik setzt sich über die ⇓ "S170" Pietisten (vgl. L184 August Langen 21968,368f.) fort, vgl. bei Goethe mit den Augen seiner Seele; mit den Augen des Geistes; meinem geistigen Auge; dem inneren Auge; mit Geistesaugen (vgl. L092 GoeWb); bei A222 Friedrich Schiller, Melancholie 111 die Augen meines Geists erblinden; noch heute: Wem das Auge des Geistes aufgegangen ist, der sieht unsichtbare, mit ihm verbundene Dinge (Ch.A285 Christa Wolf, Ort 131).
2 Verschiedene nach Aussehen oder Funktion übertragene Bedeutungen, schon mhd. ›Knospe‹ (A180 Martin Luther, Hohelied 7,12) und ›Punkt(e) auf dem Würfel‹; ferner ›Fetttropfen auf einer Flüssigkeit‹ (Fettauge), »der kleine Punct in dem hellsten Theile des Weißen eines Eyes« (L004 Johann Christoph Adelung); auch für bestimmte Öffnungen oder Löcher (vgl. engl. window ›Fenster‹, ursprünglich wörtlich ›Windauge‹): das Auge in den Schmelzöfen (L004 Johann Christoph Adelung; ebenda jetzt veraltet die Augen in einem Käse); vgl. G.A155 Gottfried Keller, Abendlied: Augen, meine lieben Fensterlein. Für neuere technische Verwendungen vgl. "Katzenauge" (↑ "Katze"), magisches Auge (früher am Radio). Als Grundwort z. B. in
Argusaugen ⇓ "S172" (1696; L081 FWb), ⇓ "S055" ⇓ "S143" nach dem alles sehenden Wächter Argus bei Aischylos: mit Argusaugen betrachten, über etwas wachen (L027 Büchmann);
Bullauge ›kreisrundes Kajütenfenster‹ < engl. bull's eye ⇓ "S196" (um 1900; L162 Friedrich Kluge, Seemannssprache).
Pfauenauge für die entsprechende Zeichnung der Schwanzfedern des Vogels (für ein ähnliches Farbenspiel A075 Johann Wolfgang von Goethe, 3,101, V.14), von daher wieder übertragen als Bezeichnung mehrerer Schmetterlingsarten;
Stielaugen ⇓ "S172" ⇓ "S202" im 1. Weltkrieg ›Fernrohr‹ (L347 Helmut Wocke); übertragen im erklärenden Beleg: mit Augen, die ihm fast aus dem Kopfe traten, mit Stielaugen also (A054 Hans Fallada, Blechnapf 221),
⊚ mit Stielaugen (›gierig‹) betrachten; ⇑ "Glotzauge", "Holzauge", "Hühnerauge", "Neunauge", "Schlitzauge". Weitere Zusammensetzungen und Ableitungen:
Augapfel (ahd. ) übertragen ›das Liebste‹ (A180 Martin Luther, 5.Mose 32,10). Diese Tochter ist sein Augapfel (A222 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe 5,5). Sonst mit Genitivform (frühneuhochdeutsch noch Augbraue, Auglid u. a.):
Augenblick (mhd. ) nicht mehr ›Aufschlagen der Augen‹, sondern ⇓ "S030" metonymisch ›ganz kurzer Zeitraum, Moment‹ (14. Jahrhundert); bei Goethe (wie Auge) ungewöhnlich ⇓ "S126" häufiges und wichtiges Wort, auch wegen der »Dialektik von Augenblick und Dauer« (L092 GoeWb), vgl. Dem Augenblick Dauer verleihen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Das Göttliche); Werd' ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1699); Gunst des Augenblickes (⇓ "S074" A075 Johann Wolfgang von Goethe, Elegie 104; 1,3,25) geflügeltes Wort;
Augenblicksbildung in der Wortbildungslehre (z. B. 1914 L360 ZDW15,105) ⇓ "S018" ›(einmalige) Gelegenheitsbildung‹, vgl. für poetische Bildungen A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,7660f.: Mordgeschrei und Sterbeklagen! / Ängstlich Flügelflatterschlagen!; (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust II,7669) Fettbauch-Krummbein-Schelm; Scherzbildungen z. B. in Gedichttiteln Ch.A190 Christian Morgensterns: Das Tellerhafte, Das Geierlamm, Brief einer Klabauterfrau, Der Großstadtbahnhoftauber.
augenblicklich (mhd. ) als Adjektiv ›im gegenwärtigen Moment vorhanden‹, als Adverb besonders ›in kürzester Frist, sofort‹, so auch
augenblicks (frühnhd.) Der Prinz … wird augenblicks erscheinen (H.v.A160 Heinrich von Kleist, Homburg 1723).
Augenbraue (ahd. ougbrawa) durch Übernahme des -nder flektierten Form (und Anlehnung an braun) früher auch Augenbraune, bei Goethe noch gleich häufig (L092 GoeWb), bei ihm auch Augenbraun Neutr. : mit hohem Augenbraun auf die ältern und mittleren herabsehen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Farbenlehre 1, XVI,8); früher Schwanken der Bedeutung entsprechend ↑ "Braue".
Augenlid (mhd. ) ↑ "Lid", Lider-Plural seit Luther, doch schwach Augenlieden noch Rückert (L320 Trübner).
Augenmaß (1551; L320 Trübner) ›durch bloßes Sehen geschätzte Quantität‹, besonders ›Fähigkeit dazu‹, jüngst floskelhaft Politik mit Augenmaß.
Augenmerk ›Zielpunkt der Aufmerksamkeit‹ (im 17. Jahrhundert < ⇓ "S151" niederländ. oogmerk) sein Augenmerk richten auf; früher auch ›Absicht, Anliegen‹ Sein einziges Ziel und Augenmerk(Eichendorff; L337 WdG); verdeutlicht Hauptaugenmerk (1805 Goethe; L320 Trübner).
Augenpulver ⇓ "S027" übertragen ›kleine, die Augen anstrengende Schrift oder Drucktype‹ (L169 Matthias Kramer 1700), wohl nach franz. poudre aux yeux.
Augenschein (15. Jahrhundert) zu "Schein" ›Art, wie sich etwas den Augen darstellt‹ der Augenschein lehrt, trügt; in Augenschein nehmen auch förmlich ›inspizieren‹ (1594; L239 PBB(H) 97,215); juristisch ›Besichtigung‹ einen Augenschein vornehmen (L004 Johann Christoph Adelung); sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, durch eigenen Augenschein (J.A006 Jurek Becker, Lügner 203); dazu
augenscheinlich (1514; L345 Friedrich Karl Ludwig Weigand/ L345 Herman Hirt) ›offensichtlich‹, heute gewöhnlich adverbial, eher gehoben.
Augenweide ›was die Augen erfreut‹, schon mittelhochdeutsch geläufig (auch lateinisch); vgl. mit ähnlicher Vorstellung Ohrenschmaus.
Augenzeuge ›jmd. , der einen (juristisch wichtigen) Vorgang persönlich wahrgenommen hat‹ (L308 Kaspar Stieler 1691), allgemeiner ›jmd. , der aus eigener Erfahrung berichtet‹ (L004 Johann Christoph Adelung) Ich will nicht … Novellen erzählen… , sondern lediglich als Augenzeuge… zum Bild dieses Mannes beitragen (A124 Hermann Hesse, Steppenwolf 19); auch journalistisch Augenzeugenbericht.
äugeln ›(liebevoll) blicken‹ (mhd. ) Sie hatte mit Männern geäugelt und geliebelt (Feuchtwanger; L337 WdG), vgl. "liebäugeln".
äugen (mhd. / mittelniederdt.) gewöhnlich von Tieren ›blicken‹ ein blaues Wild, / Ein Äugendes unter dämmernden Bäumen (Trakl; L337 WdG), dazu anäugen (L169 Matthias Kramer), ↑ "beäugen"; s. auch "ereignen". -
äugig, früher auch -äugicht, in blauäugig (übertragen ›naiv auf gehobener Bildungsstufe‹), einäugig, glotzäugig, mandeläugig, schlitzäugig, starräugig usw. (L169 Matthias Kramer 1700).