Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Ästhetik
Die ⇓ "S082" griechisch-lateinische Neubildung Aesthetica (griech. aisthetikós ›wahrnehmend‹) erscheint 1750 als Titel einer lateinischen Abhandlung ⇓ "S032" A.G.Baumgartens, in der eine Lehre der sinnlichen Erkenntnis nach philosophischen Vernunftgrundsätzen versucht wird, die besonders für die »schönen« Künste und Wissenschaften relevant ist. Der Begriff (lateinisch bei Baumgarten seit 1735, deutsch seit 1740) wird durch G.F.Meier, L313 Johann Georg Sulzer u. a. rasch im Deutschen verbreitet und von den Nachbarsprachen aufgenommen (franz. esthétique 1753); Baumgartens Ansatz erfährt Kritik durch Gottsched, Quistorp, Schönaich und besonders I.A152 Immanuel Kant (Kritik der reinen Vernunft, I. T.1 Die transzendentale Ästhetik und besonders Kritik der Urteilskraft T.1 Kritik der ästhetischen Urteilskraft). Die Reserviertheit der Dichter gegenüber dem Anspruch der Lehre spricht z. B. A047 Joseph von Eichendorff aus (Geschichte der poetischen Literatur, 9,18): Aber jeder wahre Dichter hat, meist ohne es zu wissen, seine eigene Ästhetik. Die Ästhetik des Schönen wird ergänzt durch eine Ästhetik des Häßlichen (so der Titel von Rosenkranz 1853), die Produktionsästhetik und Darstellungsästhetik durch eine Rezeptionsästhetik und Wirkungsästhetik (Jauß 1967); zur Begriffsgeschichte vgl. weiter L138 HWbPh 1,555ff.; L139 HWbRhet 1,1134ff.; L009 Ästhetische Grundbegriffe 1,308ff.; Schiller-Jahrbuch 37,109ff. Für den inzwischen gewandelten Begriff in der Literatur vgl. etwa: Die einzig gültige Ästhetik ist das Entsetzen, das Maß aller Kunst ist der gellende Schrei (Ch.A116 Christoph Hein, Drachenblut 71). Seit Mitte des 18. JahrhundertsÄsthetiker (1754 Lessing; L082 2FWb) und
ästhetisch (1748 G.F.Meier), bei Goethe ab 1790 sehr häufig (vgl. L092 GoeWb), wozu bald der Gegensatz
unästhetisch; diese bedeuten schließlich auch nur noch soviel wie ›schön‹ bzw. ›häßlich, widerlich‹. Ende des 18. Jahrhunderts
ästhetisieren ich hasse das Ästhetisieren in der Wissenschaft (Fontane; L337 WdG); Goethe 1812 Plan zur Ästhetisierung (›gärtnerischen Gestaltung‹) der Gegend (L092 GoeWb). Erst um 1900 werden greifbar
Ästhet (L056 Duden 91915; engl. aesthete 1881) und
Ästhetizismus (engl. aestheticism 1885): einer Zeit, von der jedes persönliche Leben, jede Verfeinerung, jedes produktive Oszillieren als Ästhetizismus und reaktionär gebrandmarkt wurde (A010 Gottfried Benn, Ptolemäer 203).
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