Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Anstand
(mhd. ) zunächst1.1 (veraltet) ›Aufschub, Verzug‹, frühneuhochdeutsch oft speziell ›Waffenstillstand‹, zu ↑ "anstehen"(3), vgl. doch muß ich der Vollstreckung des Urteils noch Anstand geben (Wieland); Es kann Anstand damit haben bis morgen (A177 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti 1,8);
1.2 dann unter Bezug auf den Grund des Aufschubs auch ›Bedenken, Einwand‹, süddeutsch/ österreichisch wie Beanstandung (↑ "beanstanden"), allgemein ohne Anstandohne Bedenken, unverzüglich‹ (Goethe), synonym anstandslos: Seine Fragen … wurden anstandslos beantwortet (H.A182 Heinrich Mann, Untertan 381); veraltet Anstand nehmen an, Anstand erheben gegen, dafür ↑ "beanstanden";
2"S100" jägersprachlich ›Stelle, wo man zum Schuß kommt‹ (18. Jahrhundert) Eine Jagdexpedition … lag im Ufergebüsch auf dem Anstand (A146 Franz Kafka, Bericht Akademie, Erzählungen 140).
3 Die heutige Hauptbedeutung ›der guten Sitte entsprechendes Benehmen‹ ist in "anstehen"(1.2) schon mittelhochdeutsch angelegt, dann v. a. durch anständig (s. unten) gefördert worden, aber erst im 18. Jahrhundert allgemein; dazu Anstandsdame (als ⇓ "S040" Rollenfach L059 DWb 1854), Anstandshappenbeim Essen (für andere) übrig Gelassenes‹, Anstandsliteratur (vgl. L139 HWbRhet 1,658ff.), Anstandsstrich (z. B. A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,3961 Es ft die Hexe, Handschrift: farzt; A075 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,1821 Kopf und H – –, wohl: Hintern, keine Handschrift erhalten). In Wendungen wie mit Anstand verlieren können, sich mit Anstand aus der Affäre ziehen auch ›würdevolle Haltung, Gefaßtheit‹ (Goethe).
anständig (1464; L072 Frühnhd.Wb.), frühnhd.
1 (veraltet) zu Anstand(1.1) ›aufgeschoben, unerledigt‹ und
2 zu "anstehen"(1.2) ›passend, geziemendanständiges wetter zu erwarten (Grimmelshausen; L109 Moriz Heyne), im 18. Jahrhundert oft jmdm. anständig seinrecht sein, gefallenwenn Ihnen mein Geschrey nicht anständig ist (Schikaneder; L360 ZDW10,76) und
3 ohne abhängigen Kasus ›der guten Sitte gemäß, schicklich‹: die guten Sitten, ein anständiges Betragen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit; 26,72,15); erst mußten Messer und Gabel erfunden werden, und dann lernte die Menschheit anständig essen (A199 Robert Musil, Mann 137), Gegensatz unanständiganstößig‹ (L308 Kaspar Stieler). Bei Kindern im Süddeutschen oft im Sinne von ›brav‹ (↑ "artig"). Anständig(2) im 19. Jahrhundert quantitativ akzentuiert
4beträchtlich‹, vgl. Goethe 1802 eine etwas anständigere Summe anzubieten (L092 GoeWb), als Adverb umgangssprachlich steigernd: jemanden anständig zum henker jagen (Jean Paul; L059 DWb), jmdn. anständig verprügeln, vgl. "gehörig", "ordentlich", "tüchtig".
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