Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
ansehen
(ahd. )1 etwas ansehen.den Blick auf etwas richten‹, vgl. sieh mich an, wenn du mit mir redest, nicht auf den Boden. Man sagt sieh (sehe einer) doch den Trotzkopf an u. dgl. als Aufforderung zur Aufmerksamkeit, wo es auch heißen könnte was ist das für ein Trotzkopf; ähnlich oder auch als Ausdruck der Verwunderung bloß sieh mal an, wo der Gegenstand sich aus der Situation ergibt. In der Art, wie man jemanden ansieht, kann ein bestimmter Gefühlsausdruck liegen, vgl. jmdn. freundlich, starr, trotzig, sauer, scheel ansehen; phraseologisch jmdn. über die Achsel/ Schulter ansehen. Davon, ob der Blick auf jemanden fällt oder nicht, hängt es ab, ob man sich um ihn kümmert, daher wird ansehen frühneuhochdeutsch ›berücksichtigen‹, ›sich nach etwas richten‹, vgl. siehe nicht an seine Gestalt, noch seine große Personder Herr aber siehet das Herz an (Luther); so besonders die Person ansehen, auch das Geld, die Kosten nicht ansehen. In der älteren Rechtssprache aber bedeutet mit etwas ansehen soviel wie ›strafen‹, vgl. noch wie kann der Herausgeber eines freigeisterischen Buches eine Ahndung von ihr zu besorgen haben, mit der sie nicht einmal den Verfasser desselben ansehen würde (Lessing); wird Unzucht so hart angesehen? (Wieland). Das Ansehen eines Gegenstandes macht einen bestimmten Eindruck auf das Gemüt, vgl. es ist schrecklich anzusehen; es sieht sich hübsch an; ich kann es nicht (länger) ansehen, auch mit ansehen, wobei eigentlich noch andere Zuschauer vorausgesetzt werden, woran man aber jetzt nicht mehr denkt; vielmehr liegt in mit ansehen (müssen) die Vorstellung des Nichteingreifens. Wer den Blick auf einen Gegenstand richtet, kann dabei die Absicht haben, sein Äußeres genauer kennenzulernen; so wird ansehen synonym mit "besehen", "besichtigen", "betrachten", vgl. Bilder, eine Vorstellung ansehen. usw. Es kann sich daran ein Urteil anschließen; dabei kann Anknüpfung mit für stattfinden: seinen Begleiter habe ich für seinen Bruder, für einen Soldaten usw. angesehen; ich sah dich für deinen Bruder an; im letzten Fall ergibt sich aus der Situation, daß eine Verwechselung stattgefunden hat; das Urteil braucht nicht auf wirklichem Sehen zu beruhen: ich sehe ihn für meinen Freund an; wofür siehst du mich an? (›was denkst du von mir‹); er sieht mich vermutlich nicht für voll an (J.M.R.A174 Jakob Michael Reinhold Lenz, Hofmeister 1,1). Anknüpfung mit als: ich sehe es als meine Pflicht, als abgemacht an; ferner ich sehe die Sache so (wie ein vernünftiger Mensch) an, auch zuweilen ich sehe die Sache nicht schlimm an u. dgl. Veraltet ist auf etwas angesehen seinzu etwas bestimmt sein‹ (schon mhd. ), vgl. noch diese Versammlungen waren nur auf Gastmäler und freundschaftliche Ergötzungen angesehen (Wieland); eine Anstalt, die auf unsern Vorteil angesehen ist (Goethe, Briefe); am Ende ist das Ganze nur darauf angesehen, daß mein Mann mich auf die Probe stellen will (Tieck); häufiger unpersönlich (wofür jetzt "abgesehen"): nicht auf Besitz, sondern auf Wirkung war es angesehen (Goethe); es ist unter uns nicht auf Komplimente angesehen (Goethe).
2 Frühneuhochdeutsch findet sich eine ähnliche Verwendung wie die unter "sehen"(9), vgl. es siehet mich an, als sei ein Aussatzmal an meinem Hause (Luther).
3 Mittelhochdeutsch wird ansehen auch wie erblicken gebraucht, also in Fällen, wo es nicht bloß von dem Willen des Subjekts abhängt, daß der Gegenstand in seinen Gesichtskreis fällt, so noch bei Luther: da nun Samuel Saul ansahe. Dazu "ansichtig" (werden).
4 jmdm. etwas/ nichts ansehenbemerken, feststellen‹ verkürzt aus Verbindungen wie jmdm. etwas an den Augen, an der Nase ansehen(schon frühnhd.). Der ⇓ "S093" Infinitiv
Ansehen (mhd. ) hat sich zu einem selbständigen Substantiv herausgebildet in zwei Hauptfunktionen.
1Art, wie sich etwas ansieht‹: das Ansehen der Herrlichkeit des Herrn war wie ein verzehrend Feuer (Luther); Fälle, in denen wir jetzt "Aussehen" vorziehen würden: einen so weisen Mann, als sein ganzes Ansehen ihn ankündigt (Wieland); Ihr habt ein so hungriges heringsmäßiges Ansehn, ein so zusammengebetteltes Gesicht (A308 Maler Müller, Fausts Spazierfahrt 1); ein Negligé … das … ihr ein häusliches und bequemes Ansehen gab (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 21,145,18); allgemein noch ich kenne ihn bloß von Ansehen. Es berührt sich mit "Anschein": ich müsse mehr von ihr wissen, als ich das Ansehen haben wollte (Wieland); er wußte jeder Verfügung das Ansehen einer Gefälligkeit gegen die Wünsche des Volkes zu geben(Wieland); so heute veraltet.
2.1 An die Verwendung von ansehenberücksichtigen‹ schließt sich an Ansehen der Person, vgl. und gibt so sonder Ansehen Jud' und Christ, und Muselmann und Parsi, alles ist ihm eins (Lessing); heute
ohne Ansehen der Person (biblisch, vgl. A180 Martin Luther, 1. Petrus 1,17);
2.2 weiterhin ›Berücksichtigung, die einer findet‹, heute ›Geltung, Wertschätzung‹ (schon Luther): er genießt ein großes Ansehen bei seinen Mitbürgern, in Ansehen stehen, sich in Ansehen setzen. Das Partizipialadjektiv
angesehengeachtet‹ (frühnhd.) schließt an Ansehen(2.2) an. Frühneuhochdeutsch wird angesehen daß, auch bloß angesehen wie eine Konjunktion verwendet ›in Anbetracht … daß‹, noch mehrmals bei Lessing, vgl. angesehen in diesen Fragmenten im geringsten nicht von der Meinung des Scotus die Rede sei; ebenso bei Jean Paul, vgl. angesehen noch kein Reisebeschreiber vor oder in dem Lande stand. ↑ "unangesehen".
ansehnlich frühneuhochdeutsch auch ansehlich (vgl. "tunlich"), zunächst ›sichtbar‹, dann ›in die Augen fallend‹, ›stattlich‹, ›bedeutend‹ (ansehnliches Vermögen), im 18./ 19. Jahrhundert gelegentlich auch wie angesehen: hochansehnliche Versammlung.
Ansehung in der präpositionalen Verbindung in Ansehung mit Genitiv ›angesichts, in Anbetracht‹ (15. Jahrhundert), veraltend. – ↑ "Ansicht".
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