Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Angst
westgermanisch (nicht engl.) von dem in ↑ "eng" erhaltenen Adjektiv abgeleitet (mit -st-wie Dienst, Ernst usw.); ahd. angust, angest Fem. , mittelhochdeutsch/ frühneuhochdeutsch oft Mask. ; anders als die meisten Sinnverwandten (s. unten) seit alters auch im Plural (eventuell von dem auch etymologisch verwandten lateinischen Plural angustiae ›Enge, Beklemmung‹ beeinflußt): Wenn mein Hertz in engsten ist (A180 Martin Luther, Psalm 77,4); redensartlich in tausend Ängsten schweben (L003 Johann Christoph Adelung 1774). ⇓ "S075"1 Im Mittelhochdeutschen und noch im 17./ 18. Jahrhundert häufig konkreter als heute ›Bedrängnis, Not, Leid‹ (vgl. L017 BMZ), besonders in Verbindungen wie Angst und Not, Angst und Pein;
2 dann auch durch die Affektenlehre stärker psychologisiert: Angst. Der höchste Grad der Furcht, und also eine sehr wichtige Leidenschaft … nicht so plötzlich und so vorübergehend … wie der Schrecken … Von allen Künstlern kann der tragische Dichter den besten Gebrauch davon machen (L313 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste T.1, 1771,144); ein Zentralbegriff moderner ⇓ "S180" Psychologie (Einfluß von Kierkegaard), wobei häufig die Unbestimmtheit des Objekts bzw. Motivs charakteristisch ist: Zumeist versteht man unter Angst den subjektiven Zustand, in den man durch die Wahrnehmung der »Angstentwicklung« gerät, und heißt diesen einen Affekt (S.A063 Sigmund Freud I,382); »Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst wirklich zu Ihnen kommt.« »Ja, aber das ist doch die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst ist die Angst vor der Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich geradezu großartig in mir.« (A146 Franz Kafka, Erzählungen 24); auch in der Philosophie: Dasein überhaupt scheint nichts als Angst zu sein (1932 A302 Karl Jaspers, Geistige Situation 58); Eine vielleicht so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen (ebenda 56); das Subjektive der Angst betonend: Angst vor Atommüll, Überbevölkerung, Hungerkatastrophen usw.? Nein. Es gibt keine reale Angst vor einem kollektiven Schicksal. Das ist Sorge, politisches Gewissen, allenfalls Verzweifelung (B.A254 Botho Strauß, Paare 164);
3 abgeschwächt ›Besorgnis, Befürchtung‹, dann häufig mit abhängigem Satz: ich hatte schon Angst, ich würde … (L092 GoeWb). – In der Gebrauchshäufigkeit hat Angst erst in den letzten 100 Jahren "Furcht" überflügelt (H.Bergenholtz, Das Wortfeld »Angst«, 1980,247); bei Goethe ist Furcht noch fast dreimal häufiger als Angst. Als Grundwort z. B. in den verstärkenden Bildungen Höllenangst (vgl. A180 Martin Luther, Psalm 116,3 angst der Hellen), Todesangst (beide L092 GoeWb), jünger Heidenangst; neuere spezielle Bildungen Platzangst (L056 Duden 111934; vgl. L299 Sprachdienst 13,136f.), "Schwellenangst" ›Scheu, einen ersten Schritt zu tun‹ (vgl. niederländisch drempelvrees; L299 Sprachdienst 14,23f.), Prüfungsangst, Berührungsangst (übertragen meist Plural Berührungsängste), Höhenangst usw. ⇓ "S237" Sinnverwandte Substantive: ⇑ "Bange", "Bangigkeit", "Beklemmung", "Beklommenheit", "Entsetzen", "Erschrecken", "Feigheit", "Furcht", "Grauen" (↑ 2"grauen"), 1"Graus", "Grausen", "Grusel", "Horror", "Lampenfieber" (↑ 1"Lampe"), "Panik", "Schauder", 2"Schock", "Schrecken", "Schüchternheit", "Terror", "Zaghaftigkeit"; ferner umgangssprachlich ⇑ "Bammel", "Manschette"(n), "Muffensausen" (↑ 1"Muff"), "Schiß".
angst prädikativ in festen Wendungen, öfters bei A180 Martin Luther, z. B. Sirach 4,19 ⇓ "S243" vnd macht jm angst vnd bange (doch vgl. "Bange" Fem. ); heute gewöhnlich mit werden, auch sein: ist mir stets um Ihren Kehlkopf angst(A243 Carl Sternheim, Schippel 4,5). Zusammensetzungen:
Angsthase als Bildung 1719 Abraham a Santa Clara (L177 Heinz Küpper), umgangssprachlich ›furchtsamer Mensch‹ erst im 20. Jahrhundert geläufig (L242 Richard Pekrun 1953; doch laut L258 Lutz Röhrich ist die Redensart ein Angsthase sein »seit 1500« verbreitet), früher häufiger Angstmeier;
Angstkauf bei befürchteter Warenknappheit (1925; L060 2DWb);
Angstneurose besonders seit S.Freud;
Angströhre"S211" studentensprachlich 1860 (L115 Helmut Henne/ L115 Georg Objartel 3,407), 1874 bei G.Keller (L164 Friedrich Kluge), scherzhaft für Zylinderhut (↑ "Zylinder"), ⇓ "S032" geprägt während der Revolution am 29. Okt. 1848 in Wien, als die Führer der Studenten mit solchen Hüten als Zeichen der Kapitulation auftraten (L360 ZDW9,156); nach anderer Meinung (L179 Heinz Küpper 1987 1,67) < gleichbedeutend engl. anxiety hat (im L230 2OEDnicht belegt, jedoch umgangssprachlich chimney-pot, stove-pipe);
Angstschweiß (mhd. ) redensartlich Der Angstschweiß steht mir auf der Stirn (L092 GoeWb).
ängstlich (ahd. ) auch abgeschwächt ›peinlich genau‹: Eine gar zu ängstliche Ordnung(L004 Johann Christoph Adelung).
ängstigen (frühnhd.) gewöhnlich reflexiv, zu einem Adjektiv ahd. angustig, daneben veraltet ängsten (ahd. angusten), noch A210 Wilhelm Raabe: Was ängstet Ihr Euch, Signorina?(Galeere 451), auch sich abängstigen (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Lehrjahre 21,247,20);
beängstigen transitiv, bei Goethe schon häufiger als das ältere beängsten, jetzt oft beängstigendAngst machend, beunruhigend‹ vom Gesundheitszustand usw.
verängstigen (L056 Duden erst 151961, L059 DWbnur verängsten), gewöhnlich im Partizip: das etwas verängstigte Kind (A060 Theodor Fontane, Effi Briest 240).
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