Hermann Paul - Deutsches Wörterbuch
Analyse
ist seit Mitte des 18. Jahrhunderts wohl unter Einfluß von franz. analyse in der heutigen Form üblich. Die griechisch-lateinische Form analysis (zu griech. analýein ›auflösen‹) in deutscher Wissenschaftssprache seit dem 15. Jahrhundert (L081 FWb), dann besonders in der ⇓ "S130" Mathematik: L349 Christian Wolff 1716 versteht unter Analysis v. a. »die Algebra und die Differential-Rechnung« (vgl. L276 Alfred Schirmer, Mathematik). Analyse ist oft Komplementärbegriff zu ↑ "Synthese": Die Hauptsache, woran man bei ausschließlicher Anwendung der Analyse nicht zu denken scheint, ist, daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt (A075 Johann Wolfgang von Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften, II,11,71). Analyse meint in naturwissenschaftlichen Kontexten (Chemie usw.) meist die Zerlegung in die elementaren Bestandteile (L297 Sperander); die Methodik wurde vielfach auf ⇓ "S180" Psychisches und Geistiges übertragen (Psychoanalyse 1896 S.Freud, Begriffsanalyse, Stilanalyse usw.). Zur philosophischen Begriffsgeschichte vgl. L138 HWbPh. Seit den 1960er Jahren zahlreiche Zusammensetzungen, z. B. in der ⇓ "S208" Sprachwissenschaft Distributionsanalyse, Konstituentenanalyse, semant. Komponentenanalyse, Diskursanalyse, Gesprächsanalyse usw., v. a. unter amerikanischem Einfluß (z. B. Harris Discourse analysis, 1952; vgl. weiter L166 Johann Knobloch). Seit Anfang des 19. Jahrhunderts auch schon allgemein ›genaue Untersuchung‹: den unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern, die durch gedruckte Leitfäden es der Bande ermöglichten, mühelos und auf Eselsbrücken die Analyse jeder beliebigen Dramenszene herzustellen (H.A182 Heinrich Mann, Professor Unrat 377).analysieren (1668; L081 FWb), im 18. Jahrhundert unter Einfluß von franz. analyser (1698) verbreitet; Ehe ich diese … Komposition … in ihre ursprünglichen Elemente analysiere (F.Schlegel; L151 Josef Kehrein); weiter entsprechend Analyse (s. oben), z. B. auch in der Psychologie: Wir haben den Kranken analysiert, das heißt seine Seelentätigkeit in ihre elementaren Bestandteile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm aufgezeigt (1919 S.A063 Sigmund Freud, Erg. Bd. 242).
analytisch (1683; L060 2DWb), oft komplementär zu "synthetisch", vgl. I.A152 Immanuel Kants Unterscheidung analytisches Urteil und synthetisches Urteil (Kritik der reinen Vernunft; vgl. dazu L138 HWbPh), A.W.Schlegels Unterscheidung in analytische Sprachen und synthetische Sprachen (vgl. L166 Johann Knobloch); ferner etwa in der Literaturwissenschaft analytisches Drama, auch: Enthüllungsdrama (z. B. »König Ödipus« von Sophokles, »Der zerbrochene Krug« von H.v.A160 Heinrich von Kleist; vgl. L289 Günther und Irmgard Schweikle).
Analytik z. B. bei I.A152 Immanuel Kant: Die transzendentale Analytik … ist die Zergliederung unseres gesamten Erkenntnisses a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis (Kritik der reinen Vernunft, 88).
Analytiker z. B. bei Schiller (L151 Josef Kehrein), Goethe (L092 GoeWb), daneben früher Analyst < franz. analyste. ⇓ "S037" Heute versteht man Analytiker meist als Psychoanalytiker, während
Analyst < ⇓ "S059" engl. analyst in der Bedeutung ›Börsenfachmann‹ ⇓ "S149" neu aufgenommen ist (L053 Duden FWb 1966).
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